Innenpolitik

Wir können uns nicht verteidigen, wissen aber, woher der Honig ist 

Europa verliert sich im Kleingedruckten, auf große Fragen fehlen die Antworten. Im Juni werden sich wieder alle wundern, warum die EU so weit nach „rechts“ rückt.

Woher kommt mein Honig? Das ist eine Frage, die aus Sicht der Europäischen Union dringend beantwortet werden will. Deshalb wird es künftig nicht mehr reichen, „Europa“ als Herkunftsgebiet anzugeben, es muss das jeweilige Land angegeben werden, aus dem der Honig kommt. Bei Honigmischungen müssen zumindest die vier größten Herkunftsländer auf dem Etikett stehen. Geeinigt haben sich die Unterhändler der EU-Staaten und des Europäischen Parlaments in der vergangenen Woche aber auch darauf, dass Fruchtsäfte künftig nur noch dann die Bezeichnung „zuckerreduziert“ führen dürfen, wenn mindestens 30 Prozent des natürlichen Süßstoffs entfernt wurden, während ein Kilogramm Marmelade in Zukunft jedenfalls aus 450 Gramm Obst bestehen muss.

Jetzt könnte man sich darüber lustig machen, dass die Europäische Union aus dem Ärger mit normierten Gurkenkrümmung und vereinheitlichten Traktorsitzen nicht viel gelernt hat. Aber irgendwie ist das alles nicht mehr witzig: Europa hat die Kontrolle über seine Außengrenzen verloren, ist ohne militärische Hilfe aus den USA nicht verteidigungsfähig, fällt wirtschaftlich immer weiter zurück und hat auch keinen überzeugenden Plan, wie zu verhindern wäre, dass nach erfolgter Energiewende in ganz Europa das Licht ausgeht. Aber Hauptsache, wir wissen, woher der Honig kommt und wie viel Obst in der Marmelade ist.

Europa verliert sich im Kleingedruckten, die großen Fragen bleiben ungelöst. Die Menschen spüren das und sehen sich all dem hilflos ausgeliefert. Deshalb sind sie für die Populisten leichte Beute.

Europa verliert sich im Kleingedruckten, die großen Fragen bleiben ungelöst. Die Menschen spüren das und sehen sich all dem hilflos ausgeliefert. Deshalb sind sie für die Populisten leichte Beute. Man muss auch kein staatlich geprüfter Meinungsforscher sein, um zu sehen, was die radikalen Kräfte nach oben zieht: Es ist die unregulierte Zuwanderung. Das Problem wird nicht gelöst, es wird ignoriert oder gar geleugnet. Und wer der Meinung ist, dass die Sicherung der Grenzen der Grund für die Existenz von Staaten ist, gilt bereits als rechtsradikal. Dasselbe trifft auf jene zu, die sich fragen, warum abgewiesene Asylwerber nicht außer Landes gebracht werden können. Selbst schwere Straftaten schützen nicht mehr vor Abschiebung, wenn im Heimatland Verfolgung droht. Erst jüngst urteilte der EuGH, dass nicht nur jugendliche, sondern auch volljährige Flüchtlinge das Recht haben, ihre Eltern und Geschwister nachkommen zu lassen. Wir sehen: Die radikalen Kräfte schöpfen aus dem Vollen.

Die Hilflosigkeit Europas lässt sich auch an der Zahl jener Politiker ablesen, die erklären, dass sich Zuwanderung eben nicht regulieren lasse. Deshalb reguliert man Honiggläser und Milchpackerl. Im Wochentakt werden neue Regularien auf den Weg geschickt, die einen einzigen Zweck haben: aus den Bürgern bessere Menschen zu machen. Das gilt vor allem für jene, die ein Unternehmen führen. Geht es nach den Plänen des EU-Parlaments, sind künftig nicht mehr Staaten, sondern Unternehmen für die Einhaltung elementarer Grundrechte verantwortlich. Dafür, dass der Kakao in den Tassen unserer Kinder unter menschenwürdigen Bedingungen geerntet und verarbeitet wird. Dafür, dass die Rohstoffe für die Batterien in unseren von Kohlestrom angetriebenen Elektroautos nicht von Kinderhänden geschürft werden. Oder dafür, dass der indische Teelieferant seine Mitarbeiter fair behandelt.

Niemand will Produkte konsumieren, die unter menschenunwürdigen Umständen hergestellt werden. Aber müssen deshalb gleich Hoheitspflichten privatisiert werden? Zählt es doch zu den zentralen Aufgaben des Staates, dafür zu sorgen, dass Mindeststandards gesetzt und eingehalten werden. Kein Unternehmer kann sicherstellen, dass bis zum siebten Zulieferer im hintersten Winkel der Welt nach europäischen Sozial- und Umweltstandards gearbeitet wird. Dennoch ist genau das in einem eigenen Bericht nachzuweisen, der jeden Geschäftsbericht wie eine dünne Beilage aussehen lässt. Eine Goldgrube für die Beraterbranche. Sie setzt ihr Testat unter die jeweiligen Reports, aber wenn etwas schiefgeht, zahlen nicht sie, sondern die Geprüften. Und zwar bis zu fünf Prozent des weltweiten Umsatzes.

Nach der Europa-Wahl im Juni werden wieder alle ganz aus dem Häuschen sein, weil Europa so weit „nach rechts“ abdriftet. Aber zumindest wissen dann alle, ob der Honig aus Österreich, Italien oder Rumänien kommt.

Die Kolumne von Franz Schellhorn in der “Presse” (03.02.2024)

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