Die massive Inflation ist schlimm genug. Der Staat muss aufhören, auch noch die Lohnerhöhungen mit einer Sondersteuer zu bestrafen.
Eine Arbeitsgruppe gibt es schon, das ist immerhin ein Anfang: Bis Sommer soll eine Expertenrunde im Finanzministerium durchrechnen, wie viel die Abschaffung der kalten Progression kosten und wer wie stark davon profitieren würde. Man wolle das Thema „seriös diskutieren“, versprach Finanzminister Magnus Brunner jüngst. Ein Ende der kalten Progression bis 2023 halte er für denkbar: „Wir werden sehen. Eine Möglichkeit ist es.“
Hoffentlich hat die Arbeitsgruppe nicht nur den Zweck, Aktivität vorzutäuschen, wo die Politik lieber bremsen möchte. Es wäre nicht das erste Expertengremium, das auf diese Art missbraucht wird. Bei der kalten Progression wäre das besonders bitter – und auch ökonomisch ein großer Fehler. Leistung muss sich lohnen, das trommelt gerade die ÖVP seit Jahrzehnten. Doch das bleibt ein leeres Versprechen, solange der Fiskus bei jeder Gehaltserhöhung gierig mitschneidet.
Die kalte Progression entsteht, weil zwar die Gehälter mit der Inflation mitwachsen, nicht aber die Tarifstufen und Absetzbeträge des Steuersystems. Besonders anschaulich zeigt sich das Problem ganz unten in der Einkommenspyramide: Der Eingangssteuersatz liegt wie 2016 noch immer bei 11.000 Euro. Wäre er an die Inflation angepasst worden, begänne die Steuerpflicht heuer erst bei rund 12.200 Euro, darunter wäre alles steuerfrei. Das gleiche Spiel wiederholt sich in den oberen Tarifstufen, die ebenfalls nicht mit der Inflation angehoben werden. Erwerbstätige zahlen also höhere Steuern als sie müssten, obwohl ihre Kaufkraft gleich bleibt oder sogar sinkt. Zudem rutschen sie mit der Zeit auch noch in immer höhere Steuerstufen.
Besonders dramatisch wird der Effekt, wenn die Inflation so hoch ist wie jetzt. In den kommenden Lohnrunden werden Arbeitgebervertreter wohl darauf drängen, die massive Teuerung zu berücksichtigen und die Löhne entsprechend stark zu erhöhen. Ohne Anpassungen könnten sich die Österreicherinnen und Österreicher bei gleicher Arbeit deutlich weniger leisten; die gesamte Wirtschaft würde darunter leiden. Doch solange es die kalte Progression gibt, ist der Wettlauf gegen die Inflation für heimische Erwerbstätige kaum zu gewinnen. Ein österreichischer Durchschnittsverdiener mit einem monatlichen Bruttoeinkommen von rund 3000 Euro müsste um 7,4 Prozent mehr Gehalt bekommen, um netto gleich gut auszusteigen wie vor der Teuerungswelle bei sechs Prozent Inflation.
Schon 2017 wollte der damalige Finanzminister Hans Jörg Schelling die kalte Progression abschaffen. Doch der Koalitionspartner SPÖ war dagegen. Dann versprach die Regierung, bis 2019 aktiv zu werden. Weil wieder nichts passierte, steht das Projekt auch im aktuellen Koalitionsabkommen von Türkis-Grün. Finanzminister Brunner muss also nur umsetzen, was längst vereinbart wurde. Er verdient dabei jede Unterstützung.
Dass sich die Politik mit dem Vorhaben gar so schwertut, hat einen simplen Grund: Viele Bürgerinnen und Bürger wissen nicht im Detail, was alles von ihrem Bruttolohn abgezogen wird und warum. Entsprechend gering ist der Druck aus der Bevölkerung, diese heimlichen Steuererhöhungen schleunigst zu beenden.
Außerdem ist die kalte Progression für den Staatshaushalt ein wunderbares Zusatzgeschäft. Sollten die Regeln so bleiben, wie sie sind, wird derFinanzminister bis 2024 rund sechs Milliarden Euro zusätzlich kassieren. Dieses Geld gehört aber nicht dem Staat, sondern den Bürgerinnen und Bürgern, die hart dafür gearbeitet haben. Deshalb waren die mit großem Trara gefeierten Steuerreformen der vergangenen Jahrzehnte auch politischer Etikettenschwindel: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bekamen in der Regel zurück, was sie vorher zu viel bezahlt hatten. Die eben erst in Kraft getretene Steuerreform 2022 – wieder einmal angeblich die „größte aller Zeiten“ – wird aber schon zu Jahresende in ihrer Wirkung nahezu verpufft sein. Müssen wir dann wirklich warten, bis die Politik das nächste Mal Lust hat, unser Eigentum wieder herauszurücken?
Österreich ist ein Hochsteuerland und nimmt den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ohnehin mehr als genug Geld ab. Vergleichbare Länder schaffen es, ohne diese Inflationssteuer einen Wohlfahrtsstaat zu finanzieren und den Haushalt in Ordnung zu halten. In der Schweiz etwa werden die meisten Tarife und Steuerabzüge jedes Jahr automatisch an die Inflation angepasst. Die kalte Progression kann auf diese Art gar nicht erst entstehen. Schweden geht sogar noch einen Schritt weiter und berücksichtigt auch die Entwicklung der Reallöhne. So wird nicht nur die kalte Progression eliminiert, sondern auch die Steuerbelastung gemessen am Einkommen konstant gehalten.
Die Arbeitsgruppe im Finanzministerium hat also eine paar Modelle, die sie bis zum Sommer studieren kann. Aber danach sollte es, bitte, schnell gehen.
Gastkommentar von Denés Kucsera für den “Standard” (30.04.2022).
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