Das Lieferkettengesetz ist gescheitert, unter anderem am Widerstand von Christian Lindner und Martin Kocher. Wir sollten ihnen dankbar dafür sein.
Der 28. Februar 2024 wird für viele Menschen als schwarzer Tag in die Geschichte Europas eingehen. Glaubt man der „Süddeutschen Zeitung“, hat Europa an diesem Tag die historische Chance verpasst, aus der Welt einen besseren Ort zu machen. Was war geschehen? Für das geplante Lieferkettengesetz hat sich in der EU keine demokratische Mehrheit gefunden. Blockiert hat das Vorhaben allen voran der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP), weil das Gesetz seiner Meinung nach für Unternehmen nicht zu administrieren sei. Österreichs Wirtschaftsminister Martin Kocher und Regierungsvertreter anderer Länder folgten, womit das Vorhaben vorerst vom Tisch war. Millionen von Kindern würden also weiter unter verheerenden Bedingungen schuften müssen, damit reiche europäische Konsumenten günstig einkaufen könnten, wie viele NGOs verbittert festhielten.
So kann man das natürlich sehen. Wer anderer Meinung ist, behält seine Zweifel besser für sich. Um sich nicht umgehend dem schwerwiegenden Verdacht auszusetzen, Kinderarbeit zu tolerieren oder gar ein eiskalter Manchester-Kapitalist zu sein, der den Profit über das Kindeswohl stellt. Aber ist es wirklich so einfach? Wohl eher nein. Das beginnt schon einmal damit, dass es nicht die Aufgabe von Unternehmen sein kann, alle Lieferanten und deren weltweite Zulieferer auf Einhaltung europäischer Sozial- und Umweltstandards zu kontrollieren. In liberalen Rechtsstaaten zählt es immer noch zu den Kernaufgaben des Staates, Normen zu setzen und für deren Durchsetzung zu sorgen. Diese Hoheitspflichten lassen sich nicht einfach „privatisieren“, wenn es heikel zu werden droht.
Wie heikel die Sache ist, zeigte sich ebenfalls am 28. Februar 2024 – auf regionalem Level. Die staatliche Agrarmarkt Austria (AMA) hat nach einem aufgedeckten Missstand in einem heimischen Schweinestall erklärt, dass sie nicht neben jeden Landwirt einen Kontrolleur hinstellen könne. Aber wenn es nicht möglich ist, auf allen Bauernhöfen zwischen dem Bregenzer Wald und dem Neusiedler See für die Durchsetzung österreichischer Standards zu sorgen: Wie soll dann ein heimisches Unternehmen garantieren, dass der siebzehnte Zulieferer eines Lieferanten in Vietnam europäische Sozial- und Umweltstandards einhält? Und dafür auch noch mit fünf Prozent seines weltweiten Umsatzes haften?
Statt dieses Risiko einzugehen, würden sich viele Europäer aus ärmeren Ländern zurückziehen. Entweder verlöre die dortige Bevölkerung einen Teil ihrer kargen Arbeitseinkommen, oder die europäischen Einkäufer würden durch Kunden aus China oder anderen Ländern ersetzt, die nicht dafür bekannt sind, sich rasend für Menschenrechte und Umweltstandards zu interessieren. Gewonnen wäre damit nichts; allerdings könnten sich die Europäer beruhigt auf die Schultern klopfen, weil sie auf der richtigen Seite stünden.
Nun ist nichts falsch daran, auf der richtigen Seite zu stehen. Wir sollten es mit der Naivität aber auch nicht übertreiben. Ziemlich irrational ist etwa die Vorstellung, dass Kinder in ärmeren Ländern nur deshalb nicht in die Schule gehen können, weil es kein Lieferkettengesetz gibt. Die Welt ist leider komplizierter: 1992 untersagten die USA die Einfuhr von Kleidung, die von Kinderhänden gefertigt wurde. In Bangladesch verloren laut Unicef 50.000 Kinder ihre Arbeit. Sie drückten fortan aber nicht die Schulbank, sondern schufteten in Steinbrüchen oder wurden zu noch Schlimmerem gezwungen, um das Einkommen ihrer Familien zu sichern, wie die „NZZ“ unlängst berichtete.
Kinderarbeit existiert, weil es auf dieser Welt noch immer zu viel Armut gibt. Wir Europäer sind der beste Beweis dafür. Noch vor 100 Jahren schickten kinderreiche Bauernfamilien ihren Nachwuchs ins benachbarte Ausland zur Sklavenarbeit („Schwabenkinder“), um sie durch den Winter zu bringen. Die Sommerferien dauern deshalb neun Wochen lang, weil die Kinder früher den ganzen Sommer auf dem Feld gebraucht wurden. Nahezu 70 Prozent der weltweiten Kinderarbeit findet auch heute noch in der Landwirtschaft statt. Nicht selten, um die Arbeit der Eltern zu übernehmen, die in der nächsten Fabrik arbeiten. Diese Form der Kinderarbeit wäre vom Lieferkettengesetz übrigens nicht erfasst.
Aber wie kommen wir aus der Misere heraus? Eine Möglichkeit wäre, dass europäische Staaten die Regierungen anderer Länder in die Pflicht nehmen, gewisse Mindeststandards einzuhalten, wenn sie mit Europa Handel treiben wollen. Auch Strafzölle für Importe aus Ländern, die zu oft negativ auffallen, wären denkbar. Interessant sind aber auch die Ansätze der modernen Entwicklungsforschung rund um die Nobelpreisträgerin Esther Duflo. Statt globale Luftschlösser aufzubauen, sind ihre Lösungen sehr lokal und konzentrieren sich darauf, die Bedingungen vor Ort mit teils einfachsten Mitteln zu verbessern. Sie setzen oft auf eine Stärkung der Rolle der Frauen, die für Gesundheit und Bildung der Kinder verantwortlich zeichnen. Wie Esther Duflo gezeigt hat, kann die Ausgabe von Schuluniformen für wenige Dollars pro Stück mehr Kinder aus den Kobaltminen befreien als realitätsferne Direktiven aus Brüssel.
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