Foto: © Credit JOE KLAMAR / AFP / picturedesk.com
Aus dem Koalitionsbildungsschlamassel hilft uns selbst die schönste Verfassung nicht heraus. Ein Blick in die Wahlprogramme zeigt: Inhaltliche Schnittmengen zwischen ÖVP, Neos und SPÖ gibt es nur wenige.
Wenn selbst Bundespräsident Alexander Van der Bellen von einer „klassischen Pattsituation“ spricht, dann will das schon etwas heißen. Sogar er, der die Republik besonnen durch die Ibiza-Krise lenkte, die Schönheit der Verfassung rühmte und stets die Gewissheit ausstrahlte, dass schon alles wieder gut werden würde, scheint ratlos. Ein Patt ist aber bei genauerem Hinsehen keine Katastrophe. Bei einem Patt kann ein Spieler zwar keinen Zug mehr machen, ohne seinen König ins Schach zu stellen. Verloren hat er aber nicht; die Partie wird als Remis gewertet. Man reicht sich die Hand und spielt noch mal.
Es sei denn, ein Spieler wirft seinen König um und gibt auf. Aber wer sollte das sein? Würde die FPÖ Herbert Kickl stürzen, dann wäre zwar die Tür für Blau-Schwarz ein Stück offen; sie hat als Wahlsiegerin aber keinerlei Veranlassung, das zu tun. Dass die ÖVP den amtierenden Bundeskanzler Karl Nehammer vom Thron stößt, ist ebenfalls undenkbar; dabei wäre noch nicht einmal klar, welche politischen Optionen sich damit eröffnen sollten. Und sorry, ob SPÖ-Chef Andreas Babler das Zepter an PR-Berater Rudi Fußi übergeben muss oder nicht, liefert bestenfalls noch Stoff für die Klatschspalten des politischen Boulevards.
Abgesehen davon zeichnet sich ohnehin schon deutlich ab, wohin die Reise geht: Nachdem das neuerliche Gespräch zwischen Nehammer und Kickl wenig lustvoll gewesen sein dürfte und nicht zu neuen Erkenntnissen geführt hat, bindet die ÖVP in ihre Gespräche mit der SPÖ nun sogar schon die Neos mit ein. Ist das Patt damit aufgelöst?
Nein. Es verlagert sich nur von der personellen auf die inhaltliche Ebene. Ein Blick in die Wahlprogramme zeigt nämlich: Inhaltliche Schnittmengen gibt es zwischen ÖVP und Neos auf dem Papier; und mit der SPÖ passt für beide gar nichts. In den nun folgenden, monatelangen Gesprächen wird die Frage zu stellen sein, wer mehr Bauern opfern muss, um im Spiel zu bleiben. Nur um dann bei der nächsten Nationalratswahl schachmatt zu sein.
Fangen wir bei den Steuern an: Die Neos wollen senken, wo es nur geht. Die ÖVP will das angeblich zwar auch, aber 37 Jahre Regierungsbeteiligung sprechen eine andere Sprache. Es ist ein Armutszeugnis, dass die ÖVP ihre traditionelle Bierzeltforderung nach einer Abgabenquote von unter 40 Prozent nun eigenhändig einkassiert hat; die Rede ist jetzt nur noch von „in Richtung“ 40 Prozent. Und die SPÖ möchte mit Abgabensenkungen natürlich gleich gar nichts zu tun haben. Sie will nicht einmal an die Senkung der Lohnnebenkosten heran und hat sogar neue Steuern im Gepäck. Wie soll das zusammenpassen? Der Kompromiss könnte ja nur der Status quo sein. Oder das gute alte Linke-Tasche-Rechte-Tasche-Spiel.
Beim Budget sieht es auch nicht besser aus. Die ÖVP scheint sich in die irrige Annahme verrannt zu haben, man könne einen Staatshaushalt über die Einnahmenseite sanieren. Kann man aber nicht. Ein eingenommener Euro belastet die Wirtschaft stärker als ein nicht ausgegebener Euro. Ob die Neos ihre Vorstellungen von einer Ausgabenbremse mit einer Partei zusammenbringen, die uns gerade mit wehenden Fahnen in ein EU-Defizitverfahren hineinreitet? Und dann wäre da noch eine SPÖ, die reihenweise neue Ausgabenwünsche deponiert, aber außerstande ist, einen auch nur annähernd seriösen Gegenfinanzierungsplan vorzulegen. Man erinnere sich nur an Bablers Vorschlag, große Teile seines 20 Milliarden Euro teuren Transformationsfonds aus Mitteln der Bundesfinanzierungsagentur zu nehmen. Was das bedeutet? Schulden! Andere „Mittel“ hat die Agentur gar nicht.
Und wie sieht es am Arbeitsmarkt aus? Dass sich „Leistung wieder lohnen“ müsse, gehört wohl zu den Lebenslügen einer Partei, die jahrzehntelang dazu beigetragen hat, dass sie es eben nicht mehr tut. Wenigstens in der Theorie wird sich die ÖVP aber wohl mit den Neos einigen können. Doch wieder ist es die SPÖ, die die Party verdirbt. Sie legt zwar Wert auf Vollzeitarbeit. Aber Vollzeit bedeutet bei ihr 32 Stunden an vier Tagen pro Woche bei sechs Wochen Urlaub pro Jahr. Nach maximal 45 Jahren verbringen wir dann noch rund ein Drittel unseres Lebens in der Pension. In den Bächen fließen offenbar Milch und Honigund die Wolken sind aus Zuckerwatte.
Mit der Lupe im Anschlag ließe sich aber tatsächlich ein wirtschaftspolitisches Großprojekt erkennen, auf das sich ÖVP und SPÖ einigen können müssten: Ironischerweise ist es der oben schon angesprochene Transformationsfonds. Mit etwas gutem Willen könnte er nämlich mit dem Staatsfonds kompatibel sein, mit dem die ÖVP dem dänischen Beispiel folgen und heimische Start-ups mit Wachstumskapital versorgen will. Vorausgesetzt, die SPÖ hat am Ende mit ihrem Fonds nicht doch nur eine Art verstaatlichte Industrie 2.0 im Sinn. Doch immerhin. Beim Geldausgeben wird man wohl noch einen Konsens finden.
So oder so steht aber wieder eine verlorene Legislaturperiode bevor. Eine Reformkoalition sieht anders aus. Und was machen wir dann in fünf Jahren? Blitzschach mit Herbert Kickl?
Gastkommentar von Jan Kluge in “Der Standard” (21.10.2024)
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