Welches Europa brauchen wir?

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Handlungsempfehlungen: Die Grundfreiheiten aufblühen lassen und den Binnenmarkt stärken

Die Bürokratiemaschine stilllegen

Wie gesagt: Einen Binnenmarkt ganz ohne Regulierung gibt es nicht. Sicherheit und Konsumentenschutz können gute Argumente für Regulierung sein; ebenso wichtig sind aber Regeln, damit Sicherheit und Konsumentenschutz nicht den Deckmantel für Protektionismus bilden können.

Doch wenn Bürokratie den Binnenmarkt nicht mehr schützt, sondern ihm die Luft abschnürt, dann läuft etwas falsch. Mit Häme schaut die Welt derzeit nach Europa. Das Wall Street Journal attestierte uns jüngst eigenes Verschulden für das Abrutschen in die Bedeutungslosigkeit in Bereichen, in denen Innovation und Mut statt Regulierung und Maschinenstürmerei angesagt wären. Wer auch immer das zuerst gesagt hat – der alte Sinnspruch gilt weiterhin: America innovates, China replicates, Europe regulates.

Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass die EU sich nicht scheut, gewaltige Papiertiger zu erschaffen. Am Ende sind Unternehmen dann verpflichtet, jedes Jahr mehrere Hundert Seiten starke Nachhaltigkeitsberichte (CSR[1]) zu fabrizieren. Das Argument der Befürworter solcher Vehikel ist immer, dass ja nur sehr große Unternehmen damit gemeint seien. Doch trotzdem steht dahinter ein gewaltiger, unproduktiver Personalaufwand, der die Volkswirtschaft insgesamt schwächt. Rund um die Berichtspflichten der Unternehmen ist inzwischen eine ganze Industrie entstanden, die Fachkräfte bindet, die anderswo besser eingesetzt werden könnten. Auch bei der neuen Lieferkettenrichtlinie wird das so sein.[2] Und sie wird indirekt auch die kleineren Unternehmen betreffen, da die Sorgfaltspflichten von oben nach unten durchgereicht werden.

Der alte Sinnspruch gilt weiterhin: America innovates, China replicates, Europe regulates.

Dazu kommt, dass viele der Vorschriften ihren Zweck verfehlen dürften. Am Ende der CSR-Berichterstattung stehen oft farbenfrohe Werbebroschüren, mit Brief und Siegel einer gut bezahlten Wirtschaftsprüfungsagentur. Inzwischen gibt es sogar Bestrebungen, die Berichterstattung mittels künstlicher Intelligenz zu optimieren. Doch ob ein Unternehmen die Welt wirklich zu einem besseren Ort macht, oder ob es nur versucht, sich als möglichst sauber zu präsentieren, ist offen. Die Lieferkettenrichtlinie könnte sogar kontraproduktiv wirken. Da nämlich selbst die sorgfältigsten europäischen Unternehmen nicht garantieren (und schon gar nicht mit fünf Prozent ihres weltweiten Umsatzes dafür haften) können, dass der siebzehnte Zulieferer eines Lieferanten in Vietnam nach unseren Sozial- und Umweltstandards arbeitet, werden sie sich nach und nach von dort zurückziehen und das Feld den Chinesen überlassen, die bekanntlich weniger hehre Ansprüche haben. Ob es den Arbeitskräften in diesen Ländern dann besser geht, ist fraglich. Derweil klopfen sich die Europäer dafür auf die Schultern, das Richtige getan zu haben.

Ein Teil der Nachhaltigkeitsberichterstattung sind die Angaben gemäß Taxonomie-Verordnung. Hier will der Gesetzgeber abbilden, welche Teile eines Geschäftsmodells nachhaltig sind und welche nicht. Was nachhaltig ist, bestimmt das EU-Recht. Erdgas und Atomkraft zählen zum Beispiel – für viele überraschend – dazu. Die Idee ist, dass Unternehmen, die nicht ins Raster passen, früher oder später Finanzierungsprobleme bekommen. Selbst Finanzaufsichtsbehörden – traditionell eher keine Gegner staatlicher Eingriffe in den Kapitalmarkt – kritisierten die Regelung zuletzt scharf. Die Vermischung aus Finanzmarktregulierung und Nachhaltigkeit sei wenig zielführend.

Immerhin gibt es inzwischen Initiativen zum Bürokratieabbau auf europäischer Ebene. Der deutsche Normenkontrollrat verweist zum Beispiel darauf, dass vor allem die EU-Kommission das Thema behandelt und inzwischen sogar eine „One in, one out“-Regel implementiert hat. Erst vor wenigen Monaten kündigte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erneut an, 25 Prozent der Berichtspflichten streichen zu wollen. Schön und gut. Doch im Trilogverfahren mit Rat und Parlament sind der Bürokratie dann doch wieder Tür und Tor geöffnet. Auch scheint es bei den Entlastungsmaßnahmen selten um das Ob der Regulierung zu gehen, sondern bestenfalls um das Wie. Mit ein bisschen Verschlankung und mehr Digitalisierung wird es aber wohl nicht getan sein. Vielmehr muss nach einem umfassenden Kahlschlag (von mindestens 25 Prozent!) eine eingehende organübergreifende Folgekostenabschätzung stattfinden. Und sei es nur, damit die Urheber der Bürokratiebelastung anfangen, ein Gespür für das Problem zu entwickeln. Außerdem müssen kleine und mittelgroße Unternehmen (KMU) entlastet werden. Man bedenke: Das europäische Emissionszertifikatehandelssystem ETS betrifft nur ungefähr 10.000 Unternehmen und funktioniert dennoch als das klimapolitische Zugpferd schlechthin. Mit welcher Begründung wird also die CSR-Berichtspflicht ab 2026 auch auf börsennotierte KMU ausgeweitet? Allein in Österreich werden bald 2.000 Unternehmen betroffen sein. Die indirekte Belastung durch die Lieferkettenrichtlinie kommt noch dazu.

Handelspolitik strategisch und weniger moralisch gestalten

Der Binnenmarkt ist das Kerngeschäft der EU. Sich nach innen wieder stärker ökonomisch zu integrieren, wird unbedingt erforderlich sein. Um die unwiderstehlichen Kräfte des Wettbewerbs zu fördern, braucht es starke Beihilfen- und Schuldenregeln, die bei Zuwiderhandeln auch sanktionieren. Auch das geplante Notfallinstrument für den Binnenmarkt kann eine wesentliche Rolle spielen. Im Krisenfall können Mitgliedstaaten den Export wichtiger Güter nicht mehr verhindern oder zentrale Lieferketten durch Einreisestopps unterbrechen. Noch bedeutsamer wäre es aber, auch die anderen „Notfallinstrumente“ – nämlich die Ausnahmen von den Beihilfe- und Schuldenregeln unter außergewöhnlichen Umständen – nach einem Krisenfall zügig wieder einzufangen.[3]

Der Binnenmarkt ist das Kerngeschäft der EU. Sich nach innen wieder stärker ökonomisch zu integrieren, wird unbedingt erforderlich sein.

Doch so oder so: Die wirtschaftliche Bedeutung der EU in der Welt schwindet dahin. Schon aus rein demografischen Gründen. Wir müssten pro Kopf viel stärker wachsen als andere Länder, um den Anteil an der weltweiten Wirtschaftsleistung aufrechtzuerhalten. Das wird allein schon energiepolitisch schwierig. Außerdem sind wir in wichtigen Wachstumsfeldern weiterhin zu wenig präsent.

Umso wesentlicher wird es sein, sich nach außen wieder anschlussfähiger zu machen. Daher braucht es eine stärkere Zusammenarbeit der westlichen Wertegemeinschaft. Am Tag nach der EU-Wahl müssen wir Handelsgespräche mit den USA aufnehmen. Nicht über „TTIP light“; der Anspruch muss mindestens „TTIP heavy“ sein! Zölle und Quoten sollten gestrichen, Qualitätsstandards gegenseitig anerkannt werden. Zudem braucht es eine Vertiefung bei Bildung und Forschung. Einfacher geworden sind die Verhandlungen sicher nicht. Das Chlorhuhn kommt jetzt auf jeden Fall. Bei der US-Administration – unabhängig davon, wie die Wahl im November ausgeht – sind wir inzwischen eher Bittsteller als Partner. Und ausgesprochene Freihandelsbefürworter sind weder Trump noch Biden.

Druck braucht es auch bei anderen Handelsabkommen, die seit Jahren in der Warteschleife hängen.  Zum Beispiel mit dem rohstoffreichen Australien. Auch EU-MERCOSUR darf nicht auf dem Altar der NGOs geopfert werden. Seit 1999 verhandelt die EU mit den Staaten Südamerikas über intensivere Handelsverflechtungen. Statt sich von Horrorgeschichten treiben zu lassen, sollten wir unsere Interessen mit einem Abschluss stärken. Auch im Hinblick auf die neuen Allianzen im Pazifik wäre es wichtig, die südamerikanischen Staaten stärker an Europa zu binden.

Neben den Ländern, mit denen wir kulturelle und moralische Werte teilen, werden wir auch wieder mehr mit solchen zusammenarbeiten müssen, die uns zwar ferner sind, dafür aber strategisch umso wichtiger. Um auf globaler Ebene nicht weiter an Bedeutung zu verlieren, müssen wir uns den Zugang zu Ressourcen offenhalten. Die Energiewende benötigt Rohstoffe, die wir in Europa nicht in ausreichendem Maße finden. China besetzt diese Regionen bereits seit Jahren strategisch. Die Demokratische Republik Kongo gehört zum Beispiel sowohl bei Kobalt als auch bei Kupfer zu den größten Exporteuren. Mehr als die Hälfte aller Ausfuhren gehen heute an China. Nach Europa gehen nur etwa zehn Prozent. Reagieren wir nicht rechtzeitig, werden wir bald bei den erneuerbaren Energiequellen ähnliche Abhängigkeiten wie beim russischen Gas haben. Denn ohne ausreichend Nickel, Graphit, Aluminium, seltene Erden, Kobalt, Kupfer und Lithium werden wir die Energiewende importieren müssen. Selbst Wasserstoff werden wir zu Beginn nicht ausreichend in Europa produzieren können.


Fußnoten

  1. CSR = Corporate Social Responsibility.
  2. Durch die von der EU-Kommission verabschiedete Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD) sollen hohe Umweltstandards in Lieferketten gewährleistet werden.
  3. Die ursprüngliche Fassung des Notfallinstruments sah übrigens auch vor, dass die EU-Kommission in einem Krisenfall umfassende Durchgriffsrechte bis hinein in die Produktionsplanung und Lagerhaltung bestimmter Unternehmen erhält. Hier zeigt sich einmal mehr die ambivalente Haltung der europäischen Politik beim Thema Freihandel.
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