Welches Europa brauchen wir?

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Der Binnenmarkt: Wohlstandsgenerator für Europa

Den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ hat die EU in ihren Statuten fest verankert.[1] Auf der Grundlage der US-amerikanischen Verfassung ließe sich theoretisch der Sozialismus einführen; der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) erlaubt das nicht. Der vorläufige Höhepunkt der ökonomischen Integration der EU war 1993 die Erschaffung des Binnenmarkts mit seinen vier Grundfreiheiten. Nicht die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) oder der fixierte Flaschenverschluss machen die EU aus. EU heißt Binnenmarkt. Das war schon bei der Gründung der Montanunion die Idee.[2]

Der Binnenmarkt beruht bekanntlich auf vier Säulen: Der Personenfreizügigkeit, die vor allem die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit für natürliche und juristische Personen umfasst. Inzwischen kommen zwölf Prozent der in Österreich Beschäftigten aus einem anderen EU-Land; der Anteil hat sich seit 1995 fast versechsfacht. Weiters auf der Dienstleistungsfreiheit, die erlaubt, im EU-Ausland diskriminierungsfrei Leistungen zu erbringen, ohne sich dort niederlassen zu müssen. Auch in Tirol darf man ausländische Skilehrer nicht mehr benachteiligen. Mit der Kapitalverkehrsfreiheit ist es so eine Sache. Auch hier sind viele Hürden gefallen. Von einem gemeinsamen Kapitalmarkt sind wir aber noch weit entfernt. Noch immer bleibt österreichischen Unternehmen oft nichts anderes übrig, als sich über österreichische Banken zu finanzieren. 

Abbildung 3: Handelsströme

Und schließlich das Herzstück des Ganzen: die Warenverkehrsfreiheit. Gerade ein kleines Land wie Österreich erwirtschaftet einen großen Teil seines Wohlstands jenseits der Landesgrenzen. Und das geht eben umso besser, je freier der Handel mit den wichtigsten Partnern ist. Abbildung 3 verdeutlicht, dass der Warenaustausch Österreichs mit anderen EU-Mitgliedsländern (intra-EU) vor allem seit 1995 stark angestiegen ist.

Reicher macht uns übrigens nicht nur der Export, der heimische Arbeitsplätze schafft. Auch importierte Produkte vergrößern unseren Wohlstand; entweder, weil wir sie nicht selbst produzieren können oder weil sie dann viel teurer wären. Außerdem steigt die Produktvielfalt. Wären wir eine geschlossene Volkswirtschaft, dann gäbe es für jedes Produkt nur etwa neun Millionen potenzielle Kunden. Tatsächlich wäre der Markt aber noch kleiner, da nicht jeder Österreicher jedes Produkt regelmäßig konsumiert. Würden Sie zum Beispiel eine neue Blindnietzange brauchen, dann hätten Sie wahrscheinlich nur eine einzige zur Auswahl; vielleicht würden Sie auch gar nicht fündig. Einen österreichischen Anbieter gäbe es wohl kaum, dürfte dieser seine Zange nicht auch ins Ausland verkaufen. Offene Grenzen erweitern den Kundenkreis erheblich; dadurch entsteht viel Raum für Produktvielfalt. Weil Österreich oft gerade bei Nischenprodukten Spitzenreiter ist, ist es für das Land so wichtig, ausreichend Kunden zu haben, damit sich der Betrieb lohnt.

Reicher macht uns übrigens nicht nur der Export, der heimische Arbeitsplätze schafft. Auch importierte Produkte vergrößern unseren Wohlstand.

Wie viel Regelungswut brauchen wir?

Binnenmarkt bedeutet keinesfalls Wilder Westen. Es reicht nämlich nicht aus, einfach nur die Zölle zu streichen und dann die Wohlfahrtsgewinne unter sich aufzuteilen. Die Teilnehmer am Binnenmarkt müssen sich auf eine lange Reihe von Standards und Vorschriften einigen; beispielsweise Produktions- und Prüfverfahren sowie Qualitätsstandards. Das ist gut für die Kunden, da in der EU hergestellte Produkte bedenkenlos konsumiert werden können. Für die Unternehmen hat es den Vorteil, dass sie ihr Produkt nur einmal und nicht in jedem Land der EU neu zertifizieren müssen. Dafür stehen sie dann aber auch im Wettbewerb, was insgesamt zu immer günstigeren und hochwertigeren Produkten führt und damit uns Konsumenten Freude bereitet.

Doch es geht nicht nur darum, die Konsumenten zu schützen. Es ist vor allem der Binnenmarkt selbst, der Schutz braucht. Denn gewisse merkantilistische Tendenzen konnten wir Europäer nie ganz ablegen. Immer lockt der Anreiz, das Ganze unter fadenscheinigen Vorwänden ein bisschen zu den eigenen Gunsten zu frisieren. Dass es eine gute Sache ist, wenn die Güter hinausgehen und das Geld hereinkommt, darüber gibt es in Europa wohl Einigkeit. Umgekehrt eher nicht.

Abbildung 4: Interventionen

Abbildung 4 zeigt, dass die EU dem globalen Trend folgt und zunehmend Interventionen setzt, die den Handel einschränken. Die Global Trade Alert-Datenbank dokumentiert Interventionen, die den Handel betreffen und kategorisiert, ob sie zugunsten (grün) oder zulasten (rot) anderer Länder gehen. Die Interventionen reichen von klassischen Zöllen – die EU-Länder natürlich nicht gegeneinander und gegen andere nur im Verbund verhängen dürfen – über Subventionen und Local-Content-Klauseln[3] bis hin zu Importverboten. Die Franzosen, die 2013 die Zulassung einiger Daimler-Modelle wegen eines umstrittenen Kühlmittels stoppten, sind genauso enthalten, wie die Tschechen, die 2012 polnisches Speisesalz aus den Regalen nahmen, nachdem bekannt geworden war, dass dort Industriesalz beigemischt worden war. Argumentiert wird meist mit Konsumentenschutz und Sicherheitsbedenken. Auch während der Coronapandemie war das der Fall. Sie erwies sich als wahrer Globalisierungskiller. Regierungen entdecken immer dann ihre überbordende Fürsorge für die Menschen, wenn diese als Vorwand für ein bisschen Protektionismus dienen kann.

Deshalb ist es so wichtig, sich auf europaweit verbindliche Regeln zu einigen und sie dann durchzusetzen. Dazu gehören zum Beispiel:

  • Beihilfenregeln: Regierungen dürfen heimische Unternehmen nicht mit künstlichen Vorteilen ausstatten, die diesen gegenüber Firmen aus anderen Mitgliedstaaten Vorteile verschaffen. Wäre das nicht verboten, dann würden Wirtschaftsminister weiterhin Geld verteilend durchs Land reisen und rote Bänder durchschneiden. Nicht das beste Produkt würde sich dann durchsetzen, sondern dasjenige aus dem Land mit der größten Kriegskasse. Doch das Beihilfenrecht hatte es nicht immer leicht. In den Krisen der letzten Jahre wurde vieles möglich, was vorher undenkbar gewesen wäre. Ganze Politikbereiche sind inzwischen mehr oder weniger ausgenommen. Innerhalb der Important Projects of Common European Interest (IPCEI) kann das Geld ungehindert fließen. Ebenso geht unter dem Dach des Green Deals oder des European Chips Act im Grunde alles. Mit Blick auf China und den US-amerikanischen Inflation Reduction Act (IRA) scheint sich der Glaube durchzusetzen, wir könnten dagegen ansubventionieren. Sogar untereinander dürfen sich die EU-Mitglieder wieder das Wasser abgraben. Ob Intel vielleicht nicht nach Magdeburg gehen würde, wenn die Franzosen mehr als zehn Milliarden Euro angeboten hätten? Und GlobalFoundries und STMicro nicht ins südfranzösische Crolles, wenn die Deutschen mehr als drei Milliarden Euro auf den Tisch gelegt hätten?
  • Schuldenregeln: Spätestens bei der Einführung der gemeinsamen Währung bestanden die Hartwährungsländer auf strengen Staatsschuldenregeln und der No-Bail-Out-Klausel, die hochverschuldeten Ländern klar machen sollte, dass die anderen Euroländer den Karren im Notfall nicht aus dem Dreck ziehen würden. Der in der Folge geschaffene Wachstums- und Stabilitätspakt basiert auf den Maastricht-Kriterien, die ursprünglich eine Schuldenobergrenze von 60 Prozent des BIP sowie eine maximale Neuverschuldung von drei Prozent pro Jahr vorsahen. Später kamen strukturelle, also um konjunkturelle Schwankungen und Sondereffekte bereinigte Regeln hinzu. Die kürzlich durchgeführten Reformen sehen nun individuellere Regeln in Abhängigkeit vom Schuldenstand sowie Ausnahmen für Investitionen vor. Doch viele Länder tun sich seit jeher schwer mit der Einhaltung der Maastricht-Kriterien. Die Schuldenquote liegt inzwischen in vielen Ländern bei über 60 Prozent, manche sind nie in die Nähe dieser Schwelle gekommen. Auch an der Dreiprozenthürde zu straucheln, ist in Ländern wie Frankreich oder Griechenland eher die Regel als die Ausnahme.
  • Kartellrecht: Mindestens genauso gern wie Wirtschaftspolitiker Geld ausgeben, um heimische Unternehmen zu subventionieren, brüsten sie sich mit europäischen Champions. Der ehemalige deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier machte diese Fantasie sogar zum Leitbild seiner Industriepolitik, die er am liebsten gleich ganz Europa umhängen wollte. Als Testimonial für diese Art von Politik wird gerne Airbus herangezogen. Nun ist Airbus natürlich ein überaus erfolgreiches Unternehmen, das die Monopolstellung von Boeing tatsächlich aufbrechen konnte. Doch all die Himmelfahrtsprojekte, aus denen nie etwas wurde, sieht man nicht. Denn sie haben einen starken Gegner: die europäische Wettbewerbsbehörde. Die Fusionskontrolle ist ein mächtiges Tool. Aus zwei bescheiden performenden Unternehmen wird eben kein lukratives, das es mit Weltmarktführern aufnehmen könnte, wenn man ihm erlaubt, im heimischen Markt die Konkurrenz abzuschütteln.

Einsames Europa

Doch nicht nur nach innen können sich die Europäer nur schwer an die Prinzipien gewöhnen, die ihren Wohlstand ausmachen. Auch nach außen schottet sich die EU gerne ab.[4] Hier muss sie mit einer Stimme sprechen, da sie nicht nur eine Freihandelszone ist (zusammen mit Norwegen, Island und Liechtenstein), sondern auch eine Zollunion. Sie macht also nach innen Freihandel und setzt gleichzeitig nach außen eine einheitliche Handelspolitik um. Das ist zum Beispiel beim USMCA (ehemals NAFTA) zwischen den USA, Mexiko und Kanada nicht der Fall. Deshalb verhandelt die EU mit Kanada über CETA und mit den USA über TTIP. Umgekehrt ist aber für die Amerikaner die EU der einzige Ansprechpartner, wenn es um Handelspolitik geht. Norwegen, Island und Liechtenstein – die zwar Teil des europäischen Wirtschaftsraums sind, aber eben keine EU-Mitglieder – konnten gemeinsam mit der Schweiz ein Handelsabkommen mit Indien schließen und damit etwas schaffen, was die EU seit Jahrzehnten nicht hinbekommt. Statt die Welt stärker zu verbinden, wird hierzulande ideologisch Krieg geführt. Und wieder dient oft der Konsumentenschutz als Vorwand. 

Abbildung 5: Freihandelszonen

Denn statt die Welt stärker zu verbinden, wird hierzulande ideologisch Krieg geführt. Kein Vorwand ist dabei zu dümmlich. Und wieder dient oft der Konsumentenschutz als Vorwand. Ob das Tunken eines geschlachteten Hühnchens in Chlor ein tatsächliches Sicherheitsrisiko darstellt, spielt keine Rolle, solange es dadurch draußen bleibt. Der Kreativität sind kaum Grenzen gesetzt. Die Franzosen hielten in den 1980er-Jahren japanische Videorecorder draußen; sie stapelten sich – aus organisatorischen Gründen – in einem entlegenen, heillos überlasteten Zollbüro in Poitiers. Natürlich wussten die Franzosen, dass sie die heimische Nachfrage nicht aus eigener Kraft stemmen konnten. Stattdessen wollten sie aus drei Unternehmen einen europäischen Champion schaffen, der es mit den Japanern aufnehmen sollte: Thomson aus Frankreich, Grundig aus Deutschland und Philips aus den Niederlanden. Es wurde nichts daraus.

Da wir Europäer aufgehört haben, über die Schaffung gemeinsamer Wirtschaftsräume nachzudenken, orientieren sich nun selbst unsere Partner nach den gescheiterten Verhandlungen mit der EU in Richtung Pazifik. Dort existiert mit RCEP mittlerweile das größte Handelsabkommen überhaupt (vgl. Abbildung 5). Wer wird dort wohl an den Turntables sitzen und die Produktstandards definieren? China. Dort entstehen die neuen Leitmärkte. Dass die Chinesen zum Beispiel westliche Abgasnormen einfach übernehmen, gehört wohl der Vergangenheit an. Für die Umwelt muss das übrigens kein Nachteil sein. Europäische Autobauer müssen sich schon heute strecken, um den neuen Standard China 6b umzusetzen, der strenger ist als Euro 7 wohl je sein wird. So ändern sich die Zeiten.


Fußnoten

  1. Art. 119 (1) AEUV.
  2. Wenn auch damals eher aus Gründen der Rüstungskontrolle als mit ökonomischen Hintergedanken.
  3. Local-Content-Klauseln legen fest, wie hoch der inländische Wertschöpfungsanteil mindestens sein muss, damit Auslandsengagements möglich sind. Sie stellen handelsbezogene Investitionsauflagen dar und verstoßen gegen geltendes Welthandelsrecht.
  4. Abkürzungen im Folgenden: USMCA = United States-Mexico-Canada Agreement, NAFTA = North American Free Trade Agreement, CETA = Comprehensive Economic and Trade Agreement, TTIP = Transatlantic Trade and Investment Partnership, JEFTA = Japan-EU Free Trade Agreement, RCEP = Regional Comprehensive Economic Partnership, MERCOSUR = Mercado Común del Sur.
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