Die Budgetpolitik alleine kann nicht dafür verantwortlich sein, in welcher schlechten Lage die italienische Volkswirtschaft steckt, insbesondere wenn man sich die schwache Wachstumsdynamik ansieht. Denn mehrere strukturelle Probleme haben bereits in den Jahren davor dazu beigetragen, dass sich die italienische Volkswirtschaft im Vergleich zu anderen Industrienationen unterdurchschnittlich entwickelt hat. Im Folgenden werden vier Problemfelder der italienischen Volkswirtschaft betrachtet.
Es ist kurzsichtig, Austerität für alle Probleme Italiens verantwortlich zu machen. Tatsächlich liegen die Ursachen der wirtschaftlichen Probleme Italiens bereits Jahrzehnte vor der Weltwirtschaftskrise von 2008 begründet. Es sind langfristige, strukturelle Probleme. Italien ist in den vergangenen 20 Jahren so gut wie nicht gewachsen. Die durchschnittliche Arbeitsproduktivität konnte bereits zwischen 1996 und 2006 nicht mit jener anderer Industrieländer mithalten.[1] Auch die Multifaktorproduktivität, die den gesamten Produktivitätsfortschritt in einer Volkswirtschaft abbilden soll, und die Arbeitsproduktivität (gemessen in Wertschöpfung pro Arbeitsstunde) schwächten sich seit Mitte der 1990er-Jahre stark ab.
Pellegrino und Zingales gehen davon aus, dass Italien die Digitalisierung verschlafen hat. Die Revolution der IKT („Informations- und Kommunikationstechnologien“) seit 1990 ist in Italien nicht voll angekommen. Die Produktivitätssteigerung, die das Internet in anderen Industrienationen gebracht hat, zeigt sich in Italien nicht in diesem Ausmaß.
Die Gründe dafür beleuchten Umfragedaten, die belegen, dass in Italien Loyalität wichtiger ist als Leistung und Produktivität. Das Unvermögen, die IKT-Revolution zu nutzen, und ein Managementsystem, das auf Loyalität basiert, sollen laut Pellegrinos und Zingales’ ökonometrischer Analyse mindestens die Hälfte von Italiens Produktivitätsrückstand erklären.
Eine weitere Erklärung für das fehlende Wachstum in Italien liefern Calligaris et al. in einer Studie für die Europäische Kommission. Der falsche Einsatz von Ressourcen könnte den Produktivitätsrückgang in Italiens Fertigungs- und Dienstleistungssektor der letzten 20 Jahre erklären, d.h. Arbeit und Kapital werden einfach in den falschen Unternehmen und Sektoren gebunden. Die Autoren zeigen, dass die Fehlallokation in der italienischen Volkswirtschaft seit 1995 geradezu sprunghaft anstieg und sich dieser Trend stark auf die Produktivitätsentwicklung ausgewirkt hat. Wäre er auf dem Niveau von 1995 geblieben, stünde Italien im Jahr 2013 bei der Produktivität im Fertigungssektor um 18 Prozent besser da und im Dienstleistungssektor gar um 67 Prozent.[2]
In diesem Kontext sind auch Studien alarmierend, die nahelegen, dass mittlerweile auch der einigermaßen wettbewerbsfähige Norden des Landes an Boden verloren hat. Auch dort ist das Produktivitätswachstum in der jüngeren Vergangenheit im internationalen Vergleich deutlich zurückgeblieben.[3]
Produktivitätswachstum ist der Haupttreiber von nachhaltigem Wohlstand. Niedrige Produktivität führt zwangsläufig zu niedrigem Einkommenswachstum und folglich auch einer geringeren Steuerbasis. Italiens Einkommenswachstum ging in den letzten 20 Jahren überdurchschnittlich stark zurück.
Es stellt sich natürlich die Frage, wie es möglich sein kann, dass Unternehmen trotz ihrer relativen Unproduktivität nicht vom Markt verschwinden. In einem freien und effizienten Markt sollte Kapital zu den produktivsten Unternehmen fließen. Warum bleiben die ineffiziente Ressourcennutzung und die daraus resultierende Produktivitätsschwäche, wie sie in Italien zu finden sind, so hartnäckig bestehen? Warum kommt es nicht zu einer Marktbereinigung? Mögliche Antworten auf diese Fragen lassen sich zum einen an Italiens Kapitalmarkt und zum anderen in Italiens Rechtssystem finden.
Aus mehreren Studien geht hervor, dass in Italien (sowie in anderen südeuropäischen Ländern) seit der Finanzkrise von 2008 Banken zunehmend Firmen, die wirtschaftlich sehr schlecht dastanden, mit Krediten über Wasser gehalten haben.[4] Es entstanden sogenannte „Zombieunternehmen“, die nicht in der Lage waren, ihre Kredite zu bedienen, aber trotzdem immer wieder neues Geld von den Banken bekommen haben, um nicht zahlungsunfähig zu werden.
Banken, die selbst schwach kapitalisiert sind, waren hauptsächlich daran beteiligt, „Zombieunternehmen“ am Leben zu halten. Denn gerade diese angeschlagenen Geldinstitute verspürten den größten Druck, gesetzlichen Mindestkapitalanforderungen nachzukommen, und verlängerten notleidende Kredite, um Verluste zu verschleiern (auch bekannt als „evergreening“).
Dadurch wurde viel Kapital unproduktiv gebunden, und es entstand ein „Crowding-out“-Effekt, weil dynamischere Unternehmen nicht an Kapital kamen.[5]„Zombieunternehmen“ saugten Geld auf, das für produktive Investitionen und Wachstum hätte sorgen können. Es ist allerdings unklar, in welchem Ausmaß italienische „Zombies“ die Probleme der Finanzkrise verschärft und die wirtschaftliche Erholung aufgehalten haben. Unumstritten ist, dass das Verhalten der Banken zu Marktineffizienz geführt und gesunden Unternehmen geschadet hat. Aus diesem Grund sitzen Italiens Banken heute immer noch auf einem großen Berg an faulen Krediten.
Die schöpferische Zerstörung oder Umstrukturierung hochverschuldeter Unternehmen wird auch durch Italiens ineffizientes Rechtssystem aufgehalten. Durchschnittlich dauert es in Italien siebeneinhalb Jahre, bis ein Insolvenzverfahren abgeschlossen ist.[6] Das erklärt vielleicht auch, warum das Land, zusammen mit anderen Krisenländern wie Griechenland und Spanien, im Jahr 2011 trotz der großen Finanzkrise zuvor eine der niedrigsten Insolvenzraten in Europa verzeichnen konnte. Selbstverständlich gibt es in diesen Ländern keinen Mangel an unrentablen Unternehmen. Nichtsdestotrotz meldeten ebendort im Jahr 2011 weniger als 30 pro 10.000 Unternehmen Konkurs an.[7]
Durch den komplizierten und kostspieligen Restrukturierungsprozess werden Anreize verzerrt. Unproduktive und unprofitable Firmen halten sich gerade noch am Leben, tragen aber nicht zur wirtschaftlichen Dynamik beispielsweise durch Investitionen bei.
Auch der Arbeitsmarkt trägt zu den Strukturproblemen der italienischen Volkswirtschaft bei.
Im Jahr 2018 liegt diese laut Eurostat-Definition in Italien noch immer bei rund zehn Prozent. In der Arbeitsmarktsituation spiegelt sich die schwelende Krise Italiens wider: Zur hohen Arbeitslosigkeit gesellen sich schlechte Jobaussichten für Jugendliche, eine geringe Erwerbsquote und der Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit.[8]
Im Land herrscht zudem das Problem eines geteilten, dualen Arbeitsmarktes, entlang regionaler und demografischer Faktoren. Die Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe unter 25 Jahren ist von bereits überdurchschnittlich hohen 25 Prozent 2009 auf einen Höchststand von knapp 42 Prozent 2014 gestiegen. Dazu trägt nicht zuletzt auch der traditionell strenge Kündigungsschutz bei, der in Italien die Entstehung eines Arbeitsmarktes für „Insider“, die in unbefristeter Beschäftigung sind, und „Outsider“, die nur in temporären Beschäftigungsverhältnissen sind, gefördert hat.[9] Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit auch regional höchst unterschiedlich. In den südlichen Regionen ist die Arbeitslosenquote rund doppelt so hoch wie im Norden. Zugleich gehen dort deutlich weniger Menschen einer Erwerbsarbeit nach, was sich an einer um 20 Prozentpunkte geringeren Beschäftigungsquote ablesen lässt.
Reformmaßnahmen zwischen 2012 und 2015 wie beispielsweise der Jobs Act von 2014 hatten zum Ziel, die Lage auf dem Arbeitsmarkt wesentlich zu verbessern und die offensichtlichen Probleme zu lindern – durch eine Reorganisation der ineffizienten Arbeitsagenturen, spezielle Programme für junge Arbeitnehmer oder aktivierende Arbeitsmarktpolitik. Internationale Organisationen forderten wiederholt eine Mischung aus Flexibilisierung und Aktivierung. Die Regierung von Matteo Renzi hat sich für den Jobs Act an internationalen Vorbildern orientiert. Im Zentrum stand dabei auch eine Reform des Kündigungsschutzes, der wesentlich zur Dualität des Arbeitsmarktes beigetragen hat. Allerdings wurde die Reform nur zeitverzögert umgesetzt und wird nun von der aktuellen Regierung bekämpft. Die italienischen Reformen haben zwar das Arbeitsrecht etwas näher an internationale Maßstäbe herangeführt, dennoch bleiben die Arbeitsmarktinstitutionen wenig flexibel.[10]
Das Zusammenspiel zwischen politischer Stabilität und Wirtschaftswachstum ist gut dokumentiert. Ein effizienter Staat, frei von Korruption, zusammen mit einem gut funktionierenden Rechtssystem, schafft die nötigen institutionellen Rahmenbedingungen für Unternehmertum und Investitionen. Das Wissen, dass Rechtsstreitigkeiten schnell behoben werden, dass Eigentumsrechte gut geschützt sind, dass Sicherheit gewährleistet wird, ist ebenso wichtig wie die faire Behandlung von wirtschaftlichen Akteuren und die Qualität von öffentlichen Dienstleistungen. Diese Faktoren können auch das Geschäftsklima sowie das Konjunkturvertrauen von Unternehmen und Konsumenten beeinflussen.
Italien war zwar nie für besondere Stabilität bekannt, aber seit Mitte der 1990er-Jahre scheint es in Sachen guter Führung deutlich schlechter geworden zu sein, wie zum Beispiel die „Worldwide Governance Indi- cators“ (WGI) der Weltbank zeigen. Die WGI messen die gesellschaftliche Wahrnehmung der politischen Qualität, basierend auf einer Vielzahl von unterschiedlichen Umfragen. Besonders wenn es um die Bekämpfung von Korruption, Effektivität des Regierungshandelns und Rechtsstaatlichkeit geht, dann schaut es laut den Daten der Weltbank in Italien im Jahr 2016 deutlich schlechter aus als noch im Jahr 1996.
Dabei begannen die 1990er-Jahre in Italien, politisch gesehen, besonders turbulent, waren sie doch gezeichnet von „Mani pulite“, den intensiven Korruptionsbekämpfungsversuchen und dem Beginn der Zweiten Republik 1994. Es scheint so, als bräuchte Italien noch weitreichende politische Reformen, um die strukturellen Probleme in den Griff zu kriegen. Sollte dies gelingen, dann wäre auch ein deutlich positiver Effekt auf die allgemeine Wirtschaftslage zu erwarten.
Fußnoten
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Gegründet um das Land in wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Belangen zu öffnen und neue Antworten auf die großen Herausforderungen zu liefern.
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