Das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden – das sollte bis hierher schon klar geworden sein – ist nicht unbedingt die Kernkompetenz der Brüsseler Bürokraten. Was sie dagegen gut können, ist Verantwortung auf die Wirtschaft abzuwälzen. Und da sie zwar immer umfangreichere Nachhaltigkeitsberichte möchten, aber selbst nicht so genau wissen, was darin überhaupt stehen soll, lassen sie die Unternehmen selbst entscheiden, worüber sie berichten wollen. Nachlesen lässt sich das in der CSRD-Richtlinie: EU-Richtlinie 2022/2464 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2022 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 und der Richtlinien 2004/109/EG, 2006/43/EG und 2013/34/EU hinsichtlich der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen.
Wer einmal als Stakeholder an einer „doppelten Wesentlichkeitsanalyse“ eines Unternehmens teilgenommen hat, dürfte die Last der Welt deutlich auf seinen Schultern gespürt haben. Anders als bisher in der nichtfinanziellen Berichterstattung europäischer Unternehmen wird nämlich nicht mehr die „Outside-in“-Perspektive betont, die jeder vorausschauende Unternehmer ohnehin mitbedenken sollte. Zumindest im Hinterkopf muss er sich stets die Frage stellen: Hat es einen Einfluss auf mein Geschäft, wenn der Meeresspiegel steigt oder die Menschenrechtslage in Fernost sich verschlechtert? Nun geht es jedoch viel stärker um die „Inside-out“-Perspektive: Bin ich selbst für den Klimawandel und die Menschenrechtslage in Fernost mitverantwortlich und was kann ich dagegen tun?
Nun wird wohl kein Unternehmen öffentlichkeitswirksam schreiben: Ja, wir zerstören die Erde, denn unsere Aktionäre wollen es so. Der Ausweg aus diesem Dilemma ist die Wesentlichkeitsanalyse: Unternehmen laden eine breite Gruppe von Personen (Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, weitere Stakeholder oder externe Experten) ein und beratschlagen mit ihnen, in welchen Bereichen ihre Tätigkeiten ihrer Meinung nach problematisch sind und wo man tatsächlich etwas ändern könnte und sollte. Doch keine Angst vor unerwarteten Ergebnissen: Wenn Sie „Wesentlichkeitsanalyse“ in den Google-Suchschlitz eintippen, dann finden Sie seitenweise Agenturen, die nur darauf spezialisiert sind, diese Diskurse so zu moderieren, dass die wahren Probleme im Nachhaltigkeitsbericht bestenfalls im Kleingedruckten auftauchen müssen. Ihre Grafikagentur wird das Ganze mit ein paar grünen Blättern und lachenden Kinderaugen garnieren und fertig ist das Greenwashing. Leider kostet der ganze Aufwand jedes Jahr eine Stange Geld. Am Ende brauchen Sie nämlich auch noch einen Wirtschaftsprüfer, der Ihnen das Machwerk abnimmt. Und für die Hunderten Kennzahlen, die Sie jedes Jahr erheben müssen, stellen Sie lieber gleich eine ganze Abteilung ihrer besten Leute ab. Sie haben immerhin Berichte zu schreiben, die dicker sein können als Ihre Geschäftsberichte.
Beispiel: Ein rein fiktives Mineralölunternehmen in Österreich, nennen wir es VMO. Die VMO fördert über 300.000 Fässer Öl pro Tag. Und als ob das nicht schlimm genug wäre, ist es den Launen der Geologie zu verdanken, dass die Ölvorkommen oft auch noch unter Ländern liegen, die es mit Demokratie und Menschenrechten nicht allzu genau nehmen. Reichlich Zündstoff also für einen Nachhaltigkeitsbericht. Nun wäre es etwas merkwürdig, einer Ölfirma vorzuwerfen, dass sie nach Öl bohrt. Immerhin verlangen die Kunden gierig danach. Doch Hand aufs Herz: Man munkelt, dass ein gewisser Zusammenhang zwischen dem Verbrennen von Kohlenwasserstoffen und der weltweiten Klimaerwärmung besteht. Doch dass die VMO nur 0,2 Prozent ihres Umsatzes „taxonomiekonform“ (dazu später mehr) erwirtschaftet, merkt man dem Nachhaltigkeitsbericht 2023 kaum an. Vom Titelblatt lächeln eine Frau und ein Mann in fabrikneuer Arbeitskleidung neben einem Windrad und einer Geothermie-Anlage.
Doch man täte der VMO tatsächlich unrecht, würde man sie des Greenwashings bezichtigen. Natürlich weiß das Unternehmen, dass Mineralöl nicht die Zukunft ist und investiert seit Jahren massiv in seine anderen Geschäftsfelder. Dafür braucht es aber die CSRD-Richtlinie überhaupt nicht; dafür reicht die Outside-in-Perspektive vollkommen aus! Der europäische Emissionszertifikatehandel sorgt dafür, dass die VMO möglichst bald aus dem Öl aussteigen will und muss. Zwar hat sie in diesem System lange kostenfreie Zertifikate erhalten, doch schon bald wird es auch für sie richtig teuer. Dass die EU glaubt, eine sinn- und wirkungsvolle Sache wie den Emissionszertifikatehandel um ein weitgehend nutzloses, aber teures Berichtswesen erweitern zu müssen, lässt vermuten, dass in Brüssel die eine Hand nicht weiß, was die andere tut.
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Gegründet um das Land in wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Belangen zu öffnen und neue Antworten auf die großen Herausforderungen zu liefern.
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