Verloren im Papierdschungel: Die erdrückende Last der Bürokratie

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1. Die Lieferkettenrichtlinie

Die geheimen Träume der europäischen Globalisierungsgegner sind endlich wahr geworden. Mit knapper Mehrheit, unter Ausnutzung der übelsten argumentativen Untergriffe („Wer nicht dafür ist, ist für Kinderarbeit“) und in gewohnt trautem Schulterschluss mit den Gewerkschaften haben sie die Richtlinie 2024/1760 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juni 2024 über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937 und der Verordnung (EU) 2023/2859 durch die Institutionen gepeitscht.

Nun müssen Unternehmen Verantwortung für alles übernehmen, was in ihrer Lieferkette bis in die entlegensten Winkel der Erde passiert. Das Schlüsselwort, das in der Richtlinie satte 140-mal vorkommt, lautet „Sorgfaltspflicht“. Nein, ein Unternehmen muss nicht garantieren können, dass der x-te Zulieferer in Indien nach ILO-Normen arbeitet, aber er muss „geeignete Maßnahmen“ ergreifen, um zu der hinreichenden Überzeugung zu gelangen, dass er es tut. Was also weder der europäische noch der indische Gesetzgeber geschafft haben – nämlich die dort weit verbreitete Kinderarbeit zu beenden –, das obliegt jetzt der Sorgfaltspflicht europäischer Unternehmen. Diese haben nun zwei Optionen:

  • Option 1: Sie beauftragen Agenturen, die im Zuge der CSRD-Berichterstattung[1] (siehe unten) ohnehin wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Die fahren dann nach Indien und lassen die Zulieferer blumige Präventionsaktionspläne unterschreiben. Was die indirekten Zulieferer angeht, werden sich die Unternehmen einfach an ihren direkten Zulieferern abputzen und entsprechende Zusicherungen von ihnen verlangen; auch von Kleinunternehmen, die selbst von der Richtlinie gar nicht erfasst sind. Ob der Sorgfaltspflicht damit Genüge getan ist, ist natürlich höchst fraglich. Gerichte werden irgendwann darüber entscheiden müssen. Wer sich den enormen Strafandrohungen gar nicht erst aussetzen möchte, dem bleibt:
  • Option 2: Die Unternehmen suchen sich neue Zulieferer in der EU. Es werden dann wohl nur die zweitbesten Zulieferer sein, denn wären sie die besten, dann wäre die Wahl von Anfang an auf sie gefallen. Ob das den Papierkrieg mindert, weil die relevanten Leitlinien künftig berücksichtigen, dass die geografischen Risikofaktoren eines polnischen Zulieferers geringer sind als die des indischen, wird sich zeigen müssen. Lachender Dritter ist jedenfalls China. Die dortigen Unternehmen werden die freigewordenen und nun noch billigeren Produktionskapazitäten in Indien nur zu gerne nutzen.

Beispiel: Kohlproduzent Koloman aus Kärnten. Er bezieht sein Saatgut von einem türkischen Lieferanten und verkauft seine gesamte Produktion an einen Einzelhandelskonzern in Österreich. Seine Firma ist als Einmannbetrieb zwar nicht groß genug, um unter die Lieferkettenrichtlinie zu fallen. Der Einzelhandelskonzern aber schon. Er wird von Koloman eine umfassende Mitwirkung verlangen müssen, um vor allem dem türkischen Saatgutlieferanten auf die Finger zu schauen. Aber Koloman macht sich mit Blick in die Richtlinie keine Sorgen. Darin heißt es: „Unternehmen, deren Geschäftspartner KMU sind, werden auch ermutigt, diese bei der Erfüllung der Sorgfaltspflichten zu unterstützen […].“ Sehr ermutigend, nicht? In Artikel 10 (2e) werden dann sogar vergünstigte Kredite für KMU angekündigt, falls der Präventionsaktionsplan die Tragfähigkeit des KMU gefährden würde. Ja, richtig gelesen: Koloman darf sich verschulden, um die geeigneten Maßnahmen umzusetzen, die der Einzelhandelskonzern von ihm verlangt. Sage noch einer, es wurde nicht an alles gedacht.


Dass das Ganze in der nationalen Umsetzung nicht so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde, ist nicht unbedingt zu erwarten. Im Wahlprogramm der Grünen steht zum Beispiel ausdrücklich, dass sie sogar über die Mindestanforderungen der EU hinausgehen würden (Stichwort: „Gold Plating“). Die österreichischen Grünen stellen sich also sogar noch auf die Fußspitzen, um an die ganz oberen Schubladen des Bürokratie-Giftschranks heranzukommen. Die Grünen in Deutschland sehen das übrigens ganz anders. Dort gibt es schon ein nationales Lieferkettengesetz, an dem der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck so gar keine Freude mehr hat. Er würde am liebsten „die Kettensäge anwerfen und das ganze Ding wegbolzen“. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz stimmte ein und versprach jüngst beim Arbeitgebertag in Berlin: „Das kommt weg.“ Doch beide werden die EU-Richtlinie natürlich trotzdem umsetzen müssen. Für die Unternehmen kann eine mögliche Aussetzung des deutschen Lieferkettengesetzes bestenfalls eine Atempause sein.


Fußnoten

  1. CSRD = Corporate Sustainability Reporting Directive
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