Österreich ist nicht das einzige Land in Europa, in dem die Arbeitnehmer verpflichtend Mitglied in ihrer jeweiligen Arbeitnehmervertretung sein müssen. Allerdings unterscheiden sich die Rechte und Pflichten der verschiedenen Arbeitnehmervertretungen Europas sehr stark voneinander. Nur in Österreich und Luxemburg sowie zwei deutschen Bundesländern (Saarland und Bremen) haben die Kammern das Recht, Lohnverhandlungen für ihre Mitglieder zu führen.
Das ”Institute for Advanced Labour Studies” der Universität Amsterdam zeigt in einem Vergleich von insgesamt 34 Ländern, dass das österreichische System der Lohnfindung das mit Abstand unflexibelste und am stärksten zentralisierte ist (Abbildung 1).
Der für die Untersuchung verwendete Zentralisierungsindex (Iversen, 1998) berücksichtigt dabei drei Aspekte:
Fast alle anderen Länder Europas, darunter vorbildliche Sozialstaaten im Norden, regulieren die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ganz anders.
In Dänemark werden die Kollektivverträge zwischen zwei großen Organisationen verhandelt, der Arbeitgebervertretung DA und dem Gewerkschaftsbund LO. Laut einer Studie der Universität Kopenhagen (Due et al., 2010) werden die Löhne im Privatsektor jedoch für etwa 85 Prozent der LO-Mitglieder ausschließlich auf Firmenebene verhandelt. Die Branchenverhandlungen zwischen LO und DA betreffen ganz überwiegend andere Themen und so wird nur in den seltensten Fällen ein ”Mindestlohn” gesetzt.
In Schweden gibt es mehr als 60 Gewerkschaften und über 50 Arbeitgebervertretungen. Die Arbeitnehmer und Arbeitgeber können sich meist entscheiden, welcher Vertretung sie angehören wollen, oder auch auf eine Mitgliedschaft verzichten. Für die Gewerkschaften ist das ein starker Anreiz, sich möglichst intensiv um ihre Mitglieder zu kümmern und die Arbeitnehmer gut zu vertreten. 88 Prozent der Löhne der Arbeitnehmer ergeben sich aus verhandelten Kollektivverträgen, wobei mehr als drei Viertel dieser Kollektivverträge kombiniert auf Branchen- und Unternehmensebene verhandelt worden sind. Interessanterweise sind gerade im öffentlichen Sektor 44 Prozent der Kollektivverträge der Arbeitnehmer ausschließlich auf ”Unternehmens”-Ebene verhandelt worden, nämlich in allen Behörden, die über ein eigenes Budget verfügen.
Auch in Frankreich gibt es mehrere Gewerkschaften. Sie stehen in starkem Wettbewerb zueinander und werben intensiv um Mitglieder. Nur etwa acht Prozent der Arbeitnehmer sind Mitglied in einer Gewerkschaft – und dennoch haben diese einen erheblichen Einfluss auf die Höhe der Löhne. In Frankreich gelten die verhandelten Kollektivverträge wie in Österreich für 98 Prozent der Arbeitnehmer, meist werden sie auf Branchenebene verhandelt. Da in Frankreich ein Mindestlohn gesetzlich festgelegt wurde, können die Löhne nicht unter diese Grenze fallen. Nichtsdestotrotz ist es seit dem Jahr 2004 zusätzlich auch möglich, dass in anderen Bereichen unternehmensindividuelle Bestimmungen getroffen werden können, die in den meisten Fällen auch von den Vereinbarungen auf Branchen-Ebene abweichen.
Und so spielen in Frankreich auch individuelle Lohnverhandlungen eine sehr große Rolle: Die tatsächlich bezahlten Löhne sind im Schnitt viel höher als kollektivvertraglich vereinbarte – in Firmen mit 10 bis 49 Mitarbeitern um 39 Prozent höher, in Firmen mit mehr als 2.000 Mitarbeitern sogar um 55 Prozent.
Allein diese drei Beispiele aus Dänemark, Schweden und Frankreich zeigen, dass ein Verzicht auf die verpflichtende Mitgliedschaft in der Arbeiterkammer jedenfalls keine Verschlechterung der Situation der Arbeitnehmer mit sich bringen muss: Es sind ohnehin die Gewerkschaften, die Löhne verhandeln – und wie oben gezeigt wird, ist es selbst mit wenigen Mitgliedern (wie in Frankreich), mit einem internen Wettbewerb zwischen den Organisationen (wie in Schweden) oder mit Verhandlungen auf Unternehmensebene (wie in Dänemark) möglich, die Arbeitnehmer gut abzusichern.
Studien (zum Beispiel, Traxler et al., 2001) zeigen, dass weder die Gewerkschaftsdichte noch die Dichte der Arbeitgebervertretung eine große Rolle für die Abdeckung durch Kollektivverträge spielt. Viel wichtiger ist hingegen die in den Ländern jeweils geltende gesetzliche Regelung, mit der festgelegt wird, wie sich die verhandelten Kollektivverträge auf Unternehmen auswirken, die keine Mitglieder in den Arbeitgeberorganisationen sind.
Die Universität Amsterdam zeigt in einer Untersuchung (Visser, 2015), dass in 13 der untersuchten 41 Länder kollektivvertragliche Regelungen automatisch auf Unternehmen ausgeweitet werden können, die nicht Mitglied einer Arbeitgeberorganisation sind. In weiteren zwölf Ländern werden vergleichbare Regeln ebenfalls angewandt, wenn auch seltener: In Finnland wurden im Jahr 2013 dank einer solchen Ausdehnung auf nicht-organisierte Unternehmen 16 Prozent mehr Arbeitnehmer durch Kollektiv- verträge abgesichert, in der Schweiz 13,7 Prozent, in den Niederlanden 9,1 Prozent.
In Finnland wird außerdem ein kollektivvertraglich vereinbarter Lohn auf die gesamte Branche übertragen, wenn er mehr als 50 Prozent dieser Branche (gemessen an der Beschäftigung) erfasst. Diese Regelung traf im Jahr 2009 auf 158 von 198 Kollektivverträgen zu.
In Island gelten die Kollektivverträge über die von den Sozialpartnern ausgehandelten Löhne für alle Arbeitnehmer, deren Tätigkeitsprofil dem verhandelten entspricht oder sehr ähnlich ist.
In Deutschland können sich Unternehmen dem für sie jeweils gültigen Branchen-Tarifvertrag anschließen, wenn Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite Mitglied beim Arbeitgeberverband bzw. der Gewerkschaft sind. 2016 war dies für etwas über die Hälfte der Arbeitnehmer in Westdeutschland (in Ostdeutschland etwa 36 Prozent) der Fall. Darüber hinaus gibt es Unternehmen, die sich in der Ausgestaltung ihrer Arbeitsverträge an den Tarifverträgen orientieren, aber dem Tarif nicht beitreten – dies betrifft etwa acht Prozent der Beschäftigten im Westen und elf Prozent im Osten. Und es gibt Unternehmen, die ihre Verträge tarifunabhängig verhandeln. Die tarifvertragliche Bindung ist dabei in den letzten Jahren rückläufig (IAB, 2017).
Die Beispiele aus Finnland, Island und Deutschland zeigen, dass es durchaus möglich ist, die Geltung der Kollektivverträge auch auf Arbeitnehmer auszudehnen, deren Arbeitgeber die Kollektivverträge selbst gar nicht unter- zeichnet haben. Kollektivverträgen kann also durchaus auch ohne Pflichtmitgliedschaften weitläufig Geltung verschafft werden.
In diesem Zusammenhang sei allerdings darauf hingewiesen, dass die wie auch immer durchgesetzte Geltung eines Kollektivvertrags ohnehin keine signifikante Rolle für die Höhe der tatsächlich bezahlten Löhne spielt. Abbildung 2 zeigt, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Ausbreitung von Kollektivverträgen und den durchschnittlichen kaufkraftbereinigten Bruttolöhnen in den jeweiligen Ländern gibt. Die gern behauptete Formel ”mehr Geld dank Kollektivvertrag” lässt sich also nicht halten.
Dasselbe gilt auch für die Ungleichheit der Löhne in den jeweiligen Ländern – auch sie ist vom Vorhandensein oder der Ausbreitung von Kollektivverträgen unabhängig, wie unsere Abbildung 3 zeigt.
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