Es ist merkwürdig: Immer mehr Intellektuelle in Europa sind besorgt über das Wirtschaftswachstum. Wohlgemerkt: über das Wachstum selbst und nicht sein Ausbleiben. Sie sehen weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit, einen sehr langfristigen historischen Trend fortzusetzen.
Im Gegenteil, sie plädieren nachdrücklich für ein Ende der Ära des Wachstums. Zur selben Zeit wünschen sich aber alle mehr langfristiges Wachstum für die europäischen Krisenländer. Wie passt das zusammen? Passt es denn überhaupt zusammen?
Seit der Industrialisierung vor fast 200 Jahren wächst unsere Wirtschaft: mal ungewöhnlich schnell, mal langsamer und gelegentlich auch ganz normal im langjährigen Durchschnitt. Die gesamte westliche Welt hat seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens irgendwo zwischen eineinhalb und zwei Prozent pro Jahr erlebt. Über die Länge der Zeit addierte sich dies zu einem enormen Sprung des Wohlstands von der Massenarmut zum Massenwohlstand, oder genauer: von einer Welt, in der es vielen schlecht und wenigen gut geht, zu einer Welt, in der es umgekehrt ist.
Geht es nach den Wachstumskritikern, soll dieser Weg nicht weiter fortgesetzt werden. Der Grund: Die Menschen in der westlichen Welt haben genug an materiellem Wohlstand, und da gerade große Entwicklungs- und Schwellenländer dabei sind, in Sachen Lebensstandard nachzuziehen, droht der Kollaps unseres Planeten – durch Übernutzung von Ressourcen und einen von Menschenhand verursachten Wandel des Klimas. Würden nämlich alle so wohlhabend werden wie wir, bräuchten wir an Ressourcen nicht eine Erde, sondern gleich mehrere. Also: Schluss mit dem Wachstum im heute schon reichen Teil der Welt und radikale Umlenkung unserer politischen und wirtschaftlichen Leistungskraft in Richtung Ressourcenschonung.
Zudem wird behauptet, vom Wachstum profitierten nicht die Armen, sondern nur die Reichen. Dabei besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass es den Armen in unserer heutigen industrialisierten Gesellschaft weit besser geht als den Armen vor, sagen wir, zwei Generationen. Das Gleiche gilt aber auch für praktisch alle Entwicklungsländer, die über Jahrzehnte gewachsen sind: für China, Indien, Brasilien und Indonesien und viele andere. Im Indien Indira Gandhis gab es in den 1970er-Jahren noch Hungersnöte. Heute gibt es dergleichen nicht mehr, trotz erheblich gewachsener Bevölkerung.
Es gilt übrigens auch im internationalen Vergleich: Die Armen Chinas stehen heute viel besser da als die Armen Afrikas, und zwar gerade deshalb, weil China über nun drei Jahrzehnte kräftig gewachsen ist und Afrika nicht. Das kräftige Wachstum einiger großer (armer) Entwicklungsländer ist auch der Hauptgrund dafür, dass der Anteil der Ärmsten an der Weltbevölkerung in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken ist, wie immer man ihn misst, und zwar trotz Wachstum der Weltbevölkerung.
Allerdings: Viele Wachstumskritiker wählen als Maß für den Erfolg der Bekämpfung von Armut nicht den erreichten absoluten Lebensstandard, sondern den relativen, also relativ zu den wohlhabenden Gruppen der Gesellschaft. Es geht dann also gar nicht um die Bekämpfung der Armut, sondern um die Schere zwischen Arm und Reich. Dann allerdings ist das Bild natürlich differenzierter, denn die Schere schließt sich durch Wachstum nur, wenn die Armen schneller wachsen als die Reichen. International tun sie dies übrigens: China und Indien, um nur zwei große Länder zu nennen, sind noch arm, wachsen aber weit schneller als die reichen OECD-Länder, sodass die Einkommensverteilung zwischen armen und reichen Nationen dramatisch „gleicher“ geworden ist. Innerhalb einzelner Nationen ist das Bild allerdings höchst unterschiedlich – von Land zu Land, von Zeitraum zu Zeitraum. Und es kann durchaus sein, dass schnelles Wachstum über längere Zeit mit einer Zunahme der Einkommensungleichheit verbunden ist. Dies liefert ein gutes Argument für politische Maßnahmen zur Verbesserung der Teilhabe der ärmeren Schichten, etwa durch eine die gesellschaftliche Mobilität fördernde Bildungspolitik. Es ist aber überhaupt kein Argument, das Wachstum selbst zu bremsen oder abzuwürgen, denn das absolute Sinken der Einkommen der Armen im Wachstumsprozess bleibt eine sehr seltene Ausnahme.
Die Wachstumskritik vieler Intellektueller findet dennoch breite Resonanz in der Öffentlichkeit. Wir leben dabei in einem merkwürdig schizophrenen Zustand: Die Feuilletons sind voll von Rufen nach dem Ende des Wirtschaftswachstums, während oft im selben Publikationsorgan in den Politik- und Wirtschaftsteilen unverdrossen Empfehlungen ausgesprochen werden, wie das Wachstum zu erhalten oder zu verstärken sei. Ähnlich ist es in der Politik: Flammende grundsätzliche Bekenntnisse zu Maßhalten und Umkehr stehen neben Rezepturen für mehr Wachstum – und kommen dabei gelegentlich vom selben Politiker. Ganz offensichtlich ist dies in der derzeitigen Schuldenkrise: Fast alle wünschen sich mehr langfristiges Wachstum für Griechenland, Portugal und Spanien, und viele fordern gleichzeitig das Ende des Wachstums für Europa.
Der Widerspruch hat viele Ursachen. Eine zentrale ist das Verständnis davon, was Wachstum überhaupt ist – für eine Wirtschaft und eine Gesellschaft. Bei den Wachstumskritikern herrscht fast unisono die Vorstellung, Wachstum sei im Wesentlichen ein quantitatives Phänomen: Die Wirtschaft produziert immer mehr Waren, die sich zu einem gewaltigen Güterberg auftürmen, der die materiellen Bedürfnisse der Menschen befriedigt, aber enorme Ressourcen verschlingt. In diesem Bild ist es durchaus naheliegend, ein Stoppsignal zu setzen, denn – so die Sicht – die dringlichen menschlichen Bedürfnisse nehmen ja nicht immer weiter zu. Der Preis des Verzichts auf zusätzliches Wachstum ist deshalb gering, schlimmstenfalls ein gewisses Maß an Selbstbescheidung. Es entsteht dabei ein fast idyllisches Bild: Alle reduzieren das Tempo und bescheiden sich mit dem Erreichten. Das Ergebnis mag sogar ein neues Glücksgefühl sein, denn so manche Untersuchung der modernen „Happiness“-Forschung deutet in die Richtung, dass zusätzliches Einkommen in hochentwickelten Ländern – selbst wenn es im Vorhinein gewünscht ist – im Nachhinein keine zusätzliche Zufriedenheit schafft.
Diese Sichtweise ist verführerisch. Sie weckt die Hoffnung auf ein Anhalten des Hamsterrades, in dem sich viele Menschen in der kapitalistischen Marktwirtschaft gefangen sehen. Sie verliert allerdings sehr schnell ihre Attraktivität, wenn man sich klarmacht, dass eine ihrer zentralen Prämissen nicht stimmt: Wachstum in hochentwickelten Volkswirtschaften ist in hohem Maße nicht quantitativ, sondern qualitativ. In einem Land mit stagnierender Bevölkerungszahl entsteht Wirtschaftswachstum nur mehr durch die Umsetzung neuer Ideen in marktfähige Waren und Dienstleistungen. Es ist „schöpferische Zerstörung“, wie dies Joseph Schumpeter nannte: Altes verschwindet, Neues kommt. Der Wettbewerb sorgt für immer vielfältigere, bessere und auch umweltfreundlichere Güter. Geht es in bitterarmen Ländern der Welt vor allem noch um „mehr“ von allem, steht in der industrialisierten Welt der Wandel technischer Charakteristika der Produktwelt im Vordergrund: Autos, Fernseher und Waschmaschinen verbessern sich, werden bedienungsfreundlicher und ökologischer; Personal Computer, Smartphones und iPads erweitern die Welt der Kommunikation. Die Entdeckungsfreude des Marktes erlaubt erst das Wachstum.
Die Menschheit ist also kein gefräßiger Hund, der – von unersättlicher Gier getrieben – immer mehr vom gleichen Futter in sich hineinstopft. Sie ist vielmehr eine globale Gesellschaft, die zunächst ihre Grundbedürfnisse nach Nahrung, Kleidung und Wohnung befriedigt, sich dann mit langlebigen Gütern ausstattet – vom Kühlschrank bis zum Kraftfahrzeug – und schließlich auf breiter Front die Qualität und die Vielfalt des Konsums verbessert. In diesem Bild ist die Wirtschaft nicht der Massenhersteller von immer mehr eintöniger Kost. Sie ist vielmehr Begleiter eines tief greifenden Wandels der Werte und vor allem der Produzent neuen Wissens.
Damit verschiebt sich das Bild grundlegend. Denn eine Gesellschaft ohne Wachstum ist dann eigentlich nichts anderes als eine Gesellschaft ohne marktfähige Ideen. Wahrlich keine attraktive Vorstellung, ganz im Gegenteil. Und tatsächlich hat bisher niemand explizit dafür geworben. So plädieren die Wachstumskritiker auch nicht für das Ende der Ideen, sondern für deren Umlenkung: weg von der traditionellen Wertschöpfung auf dem Markt, hin zu einer ökologischen Wertschöpfung, die angeblich den wahren Bedürfnissen der Menschen – und nicht denen des Marktes – entspricht. Dann allerdings stellt sich die grundlegendste aller Fragen: Was sind die wahren Bedürfnisse, wenn sie sich nicht in irgendeiner Form in marktwirtschaftlicher Wertschöpfung widerspiegeln?
Mit dieser Frage nähert man sich tatsächlich dem Kern der gesamten Wachstumsdebatte. Es gibt hier nämlich nur zwei politische Wege, um ein vorgegebenes ökologisches Ziel zu erreichen: Entweder man erzieht die Menschen zu der nötigen Wertschätzung ökologischer Produktion, oder man sorgt für eine dauerhafte Subventionierung gegen Marktkräfte. Das Erste könnte man als „harte Erziehung“ bezeichnen, das Zweite als „harte Lenkung“. Es sind leider beide Wege keine wirklich attraktiven Gesellschaftsmodelle, jedenfalls dann nicht, wenn sich die Menschen in ihren Konsumgewohnheiten als störrisch erweisen. Genau dann entstehen nämlich Probleme, wie sie aus Plan- und Kommandowirtschaften hinreichend bekannt sind: verbreitete Unzufriedenheit der Bürger und eine Ineffizienz der staatlichen Lenkung bis hin zum grotesken Fall, dass die Wertschöpfung ohne Subventionen zu Weltmarktbedingungen extrem gering oder gar negativ ausfällt, weil Wettbewerber im Weltmarkt weit günstiger produzieren können. Die inländische protegierte Wertschöpfung ist dann nichts anderes als eine Blase, die platzt, sobald echter Wettbewerb herrscht.
Schlimmer noch: Beschreiten andere Länder nicht den gleichen Weg des Wachstumsverzichts durch ökologische Lenkung, so droht im Trend ein schleichender Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und damit zumindest die relative, wenn nicht gar absolute Verarmung. Andere Länder wachsen, und zwar nach ganz normalen marktwirtschaftlichen Kriterien, das Land des Wachstumsverzichts aber nicht. Es ist klar, dass sich dadurch nach einigen Jahren oder Jahrzehnten ein internationales Einkommensgefälle einstellt. Die Folge: Abwanderung von Leistungsträgern, weitere Schwächung der Innovationskraft bis hin zu krisenhafter Zuspitzung der Lage. Es gibt genügend historische Beispiele für den Niedergang von Nationen und Regionen in der großräumigen Arbeitsteilung, so etwa die Krise der norditalienischen Städte im 18. Jahrhundert oder Großbritanniens bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Sie liefern alles andere als Vorbilder der glücklichen Selbstbescheidung.
Zu diesen ökonomischen Schieflagen gesellen sich soziale Probleme. Denn es ist wohl eine Illusion zu glauben, dass sich wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovationskraft fein säuberlich trennen lassen. Immerhin werden weite Bereiche von Kunst, Kultur und Sozialstaat aus den marktwirtschaftlichen Erträgen des Kapitalismus finanziert – über Steuern, Abgaben und Beiträge. Hinzu kommt, dass gerade auch die urbane Welt der Kreativität in einer modernen Gesellschaft aufs Engste mit kommerziellen Anwendungen verzahnt ist. Fehlt es dort an echten marktwirtschaftlichen Anreizen, überträgt sich die Müdigkeit der Wirtschaft auf den Kreativbereich der gesamten Zivilisation bis hin zur Subkultur der Aussteiger, die als explizitem Gegenbild zumeist aus dem Kapitalismus selbst ihre Originalität und geistige Schlagkraft zieht. Denn Innovationen werden zunehmend nicht mehr monetär, sondern nur mehr moralisch belohnt – über einen Staat, der für die nötige Erziehung und Lenkung sorgt. Zu Ende gedacht ist es eine zutiefst paternalistische Welt: Nicht mehr die anonymen Marktkräfte setzen die Anreize, sondern der „Vater“ Staat. Es fällt schwer zu glauben, dass sich dies nicht auf Dauer auf die innere Dynamik einer Gesellschaft auswirkt, und zwar weit über das rein Kommerzielle hinaus.
Es ist bemerkenswert, wie wenig die Verfechter des Wachstumsverzichts diese Konsequenzen ihrer weitreichenden politischen Empfehlung ins Auge fassen. Der Grund dafür liegt in einem Sicherheitsnetz, das sie – oft nur implizit – in ihre Argumentation einziehen. Denn während sie einerseits vehement gegen das Wachstum zu Felde ziehen, taucht das Wachstum an anderer Stelle in neuem Gewande wieder auf: ökologisch geläutert als „green growth“ (im Unterschied zum „brown growth“ der traditionellen Art). Tatsächlich unterstellen viele Wachstumskritiker, dass die „Große Transformation“ hin zur ökologischen Marktwirtschaft aus sich heraus neues „sauberes“ Wachstum generiert. Dies beruht darauf, dass sie in den entsprechenden Computersimulationen den Strukturwandel der Wirtschaft so modellieren, dass er von „brown“ zu „green“ enorme Lerneffekte erzeugt, die sich dann in entsprechenden Zunahmen der Produktivität niederschlagen. Ökonomisch begründet wird dies in aller Regel dadurch, dass den Technologien erneuerbarer Energien im Wesentlichen die gleichen produktivitätssteigernden Kräfte zugetraut werden wie vormals den Informationstechnologien. Ob dies tatsächlich so sein wird, ist allerdings höchst fraglich; jedenfalls gibt es dafür keine empirischen Belege. Im Gegenteil, viele Indizien sprechen dagegen, denn der Wandel der Energieversorgung von „brown“ zu „green“ schafft keine neue „general purpose technology“, die sich durch die gesamte Wirtschaft zieht, wie dies bei der Einführung der Mikroelektronik (und früher des elektrischen Stroms und der Dampfkraft) zu beobachten war.
Aber darüber lässt sich wenigstens ergebnisoffen diskutieren und streiten. Tatsache ist dann allerdings, dass auch die Wachstumskritiker nicht ganz ohne Wachstum auskommen. Dies zeigt deutlich genug, wie schwierig es ist, sich eine Welt der Selbstbescheidung und Stagnation vorzustellen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn Wachstum als das interpretiert wird, was es in einer modernen Industriegesellschaft ist: das Ergebnis der Innovationskraft und Originalität der Menschen sowie das Mittel zum Zweck, um viele andere Ziele der Gesellschaft zu erreichen.
Damit wird aber auch klar: Der Verzicht auf Wachstum ist eine abwegige Forderung. Sie bedeutet nämlich den Verzicht auf die Umsetzung von neuem Wissen in eine qualitativ bessere und vielfältigere Produktwelt, und zwar privatwirtschaftlich und gemeinnützig. Wollen wir das wirklich? Wollen wir wirklich, dass die Entstehung und die Anwendung neuen Wissens gebremst werden? Merkwürdig ist die Forderung vor allem mit Blick auf Entwicklungs- und Schwellenländer: Warum sollten diese freiwillig darauf verzichten, bereits global vorhandenes Wissen im Zuge einer Industrialisierung in größere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Arbeitsproduktivität umzusetzen, sobald sie vom Bildungsstand ihrer Bevölkerung her in der Lage sind, dies zu tun? Merkwürdig ist die Forderung aber auch für hochentwickelte Industrieländer: Warum sollten diese die Innovationskraft ihrer Industrien bremsen und damit möglicherweise im Bezug auf den Lebensstandard stagnieren oder gar zurückfallen, wenn andere aufholen und die eigenen Pionierrenten dahinschwinden? Kurzum: Der Verzicht auf Wachstum ergibt keinen Sinn.
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Gegründet um das Land in wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Belangen zu öffnen und neue Antworten auf die großen Herausforderungen zu liefern.
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