Mythos: Die Wirtschaft schwächelt – deshalb braucht es höhere Löhne.

Beliebte wirtschaftspolitische Mythen im Stresstest

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Sucht man nach den ökonomischen Ursachen einer stagnierenden Wirtschaft, fällt früher oder später der Begriff „Lohnzurückhaltung“. Geizige Unternehmer behielten den Großteil der Gewinne lieber für sich, statt sie an ihre Arbeitnehmer auszuschütten, damit diese das viele Geld in die Geschäfte tragen können.

Wovon letztlich wieder die Unternehmer selbst profitierten: Steigende Umsätze erhöhten die Beschäftigung, wodurch der private Konsum angefacht werde, was wiederum die Erlöse der Firmen nach oben treibe – und alle leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage. So einfach kann Wirtschaft sein. Oder vielleicht doch nicht?

Die Illusion des Baron Münchhausen

Zu den beliebtesten Mythen der Wirtschaftspolitik gehört die Vorstellung, dass sich eine stagnierende Wirtschaft selber aus dem Sumpf ziehen kann, wenn die Unternehmer ihren Beschäftigten nur ausreichend hohe Löhne bezahlen. Nur so könnten die Menschen dann jene Güter kaufen, die sie produziert haben. Henry Ford wird zugeschrieben, die widersinnige Logik dieses unterstellten Wirtschaftskreislaufs mit dem einfachen Satz zusammengefasst zu haben: „Autos kaufen keine Autos.“

Wäre es anders, würden wir im Paradies leben. Henry Ford hätte nur die Löhne seiner Belegschaft verdoppeln müssen und schon wäre die Nachfrage nach Autos massiv nach oben geschnellt. „Wenn dieses naive Argument stimmen würde, dann könnte man die Löhne um 20 oder 30 Prozent erhöhen, und wir kämen wie Münchhausen aus dem Schlamassel der Arbeitslosigkeit heraus“, so sagt der deutsche Ökonom Horst Siebert. Die Realität aber ist komplizierter.

Der entscheidende Denkfehler einer solchen Baron-Münchhausen-Ökonomie liegt darin, dass höhere Löhne eben nicht nur mehr Konsumnachfrage, sondern auch höhere Kosten bedeuten. Ulrich van Suntum veranschaulicht diesen Zusammenhang in seinem Buch Die unsichtbare Hand folgendermaßen: „Stellen wir uns einen Kaufmann vor, der die Nach- frage nach seinen Produkten steigern möchte. Soll er sich wirklich an die Ladentüre stellen und seinen Angestellten Hundertmarkscheine aus der Ladenkasse in die Hand drücken, damit sie dann bei ihm einkaufen? Im besten Fall hätte er am Ende wieder das gesamte Geld in der Kasse, wäre aber um die dafür abgegebenen Güter ärmer. Längerfristig würde er auf diese Weise rasch dem Konkurs zusteuern.”

Die Wirkungskette beginnt in der realen Welt mit den Kosten, die höhere Löhne verursachen. Höhere Löhne verteuern die Arbeit relativ zu den Maschinen. Also werden Firmen versuchen, die höheren Lohnkosten durch Automatisierung, Rationalisierung und einen verstärkten Kapitaleinsatz zu kompensieren. In weiterer Folge ersetzen Maschinen die Menschen. Es werden Arbeitskräfte freigesetzt, was wiederum die Bevölkerung verunsichert und zu einem Angstsparen sowie einem Rückgang der Konsumnachfrage führt. Es ist eben nicht so, wie vom „Münchhausen”-Prinzip implizit unterstellt, dass sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt trotz höherer Löhne nicht verändert. Mit steigenden Löhnen nimmt die Nachfrage nach Arbeitskräften ab.

Höhere Löhne tragen außerdem dazu bei, dass inländische Firmen auf den Weltmärkten weniger wettbewerbsfähig werden. Der dadurch bedingte Rückgang der Exporte führt zu einem Rückgang der Inlandsproduktion und zu einer geringeren Arbeitsnachfrage. Wegen der schlechteren Wettbewerbsfähigkeit der inländischen Firmen werden die inländischen Verbraucher verstärkt Güter preislich attraktiverer ausländischer Anbieter nachfragen. Wegen der erhöhten Importnachfrage versickert ein Teil der Lohnerhöhungen im Ausland. Grundsätzlich gilt: Je offener eine Volkswirtschaft, desto größer der „Sickerverlust”, wenn die inländischen Produkti- onsbedingungen unverändert bleiben.

Eine schlechtere Umsatzentwicklung bleibt nicht ohne Folgen für die Investitionstätigkeit der inländischen Unternehmungen. Gerade in Österreich, wo es viele exportorientierte Firmen gibt, die Investitionsgüter – also Maschinen, Apparate, Geräte oder Werkzeuge – herstellen, schlägt sich eine geringere Investitionstätigkeit in einer geringeren Arbeitsnachfrage nieder. Doch auch der Staat kommt nicht ungeschoren davon: Weil sowohl Konsum- wie auch Investitionsgüternachfrage unter der steigenden Arbeitslosigkeit leiden, verliert der Staat sowohl direkte Steuerzahler (nämlich die arbeitslos gewordenen Menschen und die Firmen, die geringere Gewinne erzielen) als auch indirekte Steuerzuflüsse (wegen der geringeren Mehrwertsteuer als Folge der schwächeren Konsumnachfrage).

Am Ende der Anpassungsprozesse bleiben viele Verlierer und nur wenige Gewinner übrig: Menschen verlieren ihre Jobs, Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit, und der Staat verliert seine Steuerzahler. Letztlich hängt die Nachfrage nicht vom Lohnniveau, sondern von der gesamten Lohnsumme ab. Sie besteht aus zwei Komponenten: Zum einen geht es um die Anzahl der Beschäftigten, zum anderen um deren durchschnittliche Lohnsätze. Allein die Lohnsätze anzuheben bedeutet noch nicht, die Lohnsumme  und damit die Konsumnachfrage zu erhöhen. Der soeben dargestellte Kreislauf würde beginnen, es käme zu Beschäftigungsabbau und schließlich dazu, dass trotz steigender Löhne die Lohnsumme sinkt.

Reale, tatsächliche Kaufkraft kann nicht künstlich geschaffen werden. Sie muss hart erarbeitet werden. Anstrengung ist dabei nur eine notwendige, jedoch noch keine hinreichende Bedingung. Denn durch die Anstrengung werden zunächst nur Güter hergestellt oder Dienstleistungen erbracht. Ob aus Anstrengung auch ökonomische Werte entstehen, entscheiden aber einzig und allein die Konsumenten. Nur wenn jemand die Güter und Dienstleistungen kauft und bereit ist, dafür sein Geld auszugeben, entsteht ein ökonomischer Wert, mit dem dann alle zu entschädigen sind, die an der Herstellung mitgewirkt haben. Und das sind eben nicht nur die Arbeitskräfte, sondern auch Kapital, Rohstoffe und natürliche Ressourcen.

Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage: Das Ergebnis eines komplexen Prozesses

Der Lohn kann nicht losgelöst von den übrigen wirtschaftlichen Faktoren betrachtet werden. Zentral ist letztlich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, und diese ist eine bedeutende und komplex strukturierte ökonomische Größe. Die starke internationale Verflechtung der Volkswirtschaften – dies ist ganz besonders in Österreich der Fall – ist der Grund dafür, dass die Nachfrage der im Inland erwirtschafteten Einkommen nicht nur eine Nachfrage nach heimischen Produkten ist. Eine Vielzahl der konsumierten Erzeugnisse ist ausländischer Herkunft oder enthält wichtige ausländische Vorleistungsanteile. Entscheidend für die Nachfrage ist die Kaufbereitschaft von Kunden aus aller Welt für österreichische Waren und Dienstleistungen aller Art. Dabei ist es gleichgültig, ob diese Nachfrage dem Konsum oder der Investition dient. Die Kaufbereitschaft wird geprägt durch Qualität, Innovation und nicht zuletzt durch den Preis österreichischer Produkte. Die Bestimmungsgründe der Nachfrage und des Angebots entziehen sich dem unmittelbaren Einfluss staatlicher Wirtschaftspolitik. Sie sind vielmehr geprägt durch die Qualifikation der Arbeitnehmer, durch die Modernität der Maschinen, durch Forschung und Entwicklung und die Kosten der Produktion.

Dazu kommt, dass alle in Österreich erwirtschafteten Einkommen – Lohneinkommen genauso wie Gewinneinkommen – Nachfragewirkungen entfalten; selbst die Ersparnisse finanzieren stets die Nachfrage eines Kreditnehmers. Im Weiteren ist ja nicht nur der Konsum der Lohnbezieher nachfragewirksam. Wenn Unternehmen direkt in Maschinen investieren, statt den Konsum ihrer Angestellten durch Löhne zu finan- zieren, hat das makroökonomisch eine vergleichbare Wirkung. Ein Eingriff zugunsten einer bestimmten Form von Nachfrage hat daher in erster Linie Umschichtungen zwischen Konsum, Investitionen und Staatsnachfrage zur Folge. Auch eine Erhöhung der Staatsausgaben bei einer Konjunkturschwäche kann problematisch sein, weil sie zu Umschichtungen in der Nachfrage führt. Insbesondere die damit verbundenen Steuererhöhungen oder Verschuldungen verdrängen auf Dauer privatwirtschaftliche Tätigkeiten und schwächen das langfristige Wirtschaftswachstum. Erfahrungsgemäß verzerren solche Prozesse die Struktur der Gesamtnachfrage und führen deshalb grundsätzlich nicht zu ihrer Erhöhung.

Überhöhte Löhne vernichten Arbeitsplätze und schwächen die Kaufkraft

Deshalb ist das Baron-Münchhausen-Prinzip falsch. Zu hohe Arbeitskosten führen zunächst einmal zu hohen Produktionskosten. Können die höheren Kosten nicht auf die Preise aufgeschlagen werden, sinken die Renditen und damit die Investitionstätigkeit der Unternehmen. Können die höheren Kosten auf die Endprodukte überwälzt werden, sinkt die reale Kaufkraft der Verbraucher und damit die reale Konsumnachfrage. Wie auch immer führen in beiden Fällen höhere Löhne eben nicht zu mehr, sondern zu weniger Beschäftigung. Dabei bietet (leider) die Umkehrung noch keine Beschäftigungsgarantie: Lohnzurückhaltung führt im Zeitalter der Globalisierung nicht notwendigerweise zu neuer Beschäftigung. Sie kann möglicherweise nur das Schlimmste verhindern und dafür sorgen, dass der durch  technologischen  Fortschritt, Produktionsverlagerung und stärkere Konkurrenz aus Osteuropa oder Südostasien verursachte Beschäftigungsumbau nicht noch rascher verläuft.

Zu den Bedingungen wirtschaftlichen Erfolgs gehören Investitionen in Maschinen, Fahrzeuge, Gebäude und andere wirtschaftliche Anlagegüter. Investitionen in Realkapital (Maschinen) oder Humankapital (Bildung) sowie bessere Technologien sind wichtige Quellen wirtschaftlichen Wachstums, das in der Folge auch für mehr Beschäftigung sorgt. Die Investitionstätigkeit ist jedoch mit erheblichen Risiken verbunden. Investitionen erfolgen daher nur, wenn den Verlustrisiken attraktive Gewinnmöglichkeiten gegenüberstehen. Über Gebühr steigende Arbeitskosten – beispielsweise als Folge der geforderten Lohnerhöhungen – mindern die Gewinnerwartungen und damit unmittelbar die Investitionsbereitschaft der Unternehmen. Klassenkämpferische Rhetorik tut ein Übriges, um Investitionen zugunsten anderer Standorte zu verdrängen. Bildung und Ausbildung helfen, Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern. Allerdings gilt es auch hier, vor falschen Illusionen zu warnen: Mehr Bildung und bessere Ausbildung sind nur eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung, um das hohe österreichische Beschäftigungsniveau halten zu können. Eines ist allerdings sicher: Ein effizientes Bildungssystem würde die heimische Volkswirtschaft weiter voranbringen.

Wachstum bleibt im Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Armut die wirkungsvollste Waffe. Alles, was die wirtschaftliche Dynamik eines Landes verbessert, erhöht längerfristig die Beschäftigungschancen. Statt das Lohnniveau künstlich hoch zu halten, ist es besser, die Flexibilität des Arbeitsmarktes sicherzustellen.

Die Münchhausen-Ökonomie ist hingegen eine Fiktion. Sie funktioniert genauso wenig wie eine Geldpolitik, bei der man mit dem Helikopter über das Land fliegt und säckeweise Noten vom Himmel wirft, damit die Menschen endlich Geld erhalten, um ihre Konsumwünsche befriedigen zu können. Eine Hyperinflation wäre die Folge – der Untergang einer jeden Wirtschaft. Wäre es anders, dann wäre Griechenland heute nicht pleite, sondern Modellregion. Das südeuropäische Land hat über Jahre hinweg mit staatlichen Ausgaben die Kaufkraft der Bürger gesteigert, um damit den privaten Konsum anzukurbeln und auf diese Weise für einen selbsttragenden Aufschwung zu sorgen. Eine höhere Kaufkraft privater Haushalte ist aber nicht Ursache kräftigen Wachstums, sondern dessen Resultat. So wie auch jeder Landwirt frühmorgens nicht in den Stall geht, um nachzusehen, ob das Ei vielleicht schon ein Huhn gelegt hat.

Dürfen Löhne also überhaupt nicht mehr steigen? Keineswegs. Alle, die an der Herstellung von Gütern beteiligt sind, die auch nachgefragt werden, müssen am Erfolg teilhaben; die menschliche Arbeitskraft wie das eingesetzte Kapital. Wachsen die Löhne aber schneller als die erarbeitete Produktivität, kosten sie dauerhaft Jobs. Deshalb ist Griechenland nicht Modellregion, sondern de facto pleite. Ohne die finanziellen Hilfen aus Europa und vonseiten des IWF wäre das Land zahlungsunfähig.

Wer also an nachhaltig hoher Kaufkraft interessiert ist, lässt die Löhne nie schneller wachsen als die realisierte Produktivitätssteigerung. Und wer eine dauerhaft hohe Beschäftigung will, hofiert nicht diverse Lobbyisten, sondern innovative Unternehmen. Sie sind es, die Jobs schaffen und auch mit steigenden Löhnen konkurrenzfähig bleiben. Nicht schaden könnte auch ein schlanker Staat mit maßvollen Steuern. Niedrige Steuern stärken nämlich unmittelbar die Kaufkraft, ohne die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu schwächen und damit produktive Jobs zu vernichten.

Löhne müssen in erster Linie marktkonform sein

  • Eine Stagnation der Wirtschaft kann nicht überwunden werden, indem die Unternehmer den Beschäftigten einfach höhere Löhne zahlen. Höhere Löhne bedeuten Mehrkosten, und diese haben negative Auswirkungen, nicht nur auf die Nachfrage nach Arbeitskräften, sondern auch auf die internationale Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen.
  • Die Löhne müssen im Rahmen der gesamten Wirtschaftsaktivitäten beurteilt werden. Deren Höhe steht in einer engen Relation zu allen übrigen Preisen in der Wirtschaft und kann nicht losgelöst von den übrigen Preisen betrachtet werden.
  • Eine gute Wirtschaftspolitik muss im Hinblick auf das langfristige Wachstum deshalb ein möglichst gutes Investitionsklima schaffen.
  • Die Möglichkeit, konjunkturelle Rückschläge durch eine künstliche Erhöhung der Löhne zu beheben, ist somit ein Mythos, der zentrale gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge ausblendet. Wachstum bleibt im Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Armut das wirksamste Mittel.
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