Die Weltwirtschaft wächst seit Jahren – und dennoch wird die Lücke zwischen Arm und Reich immer größer. Das jedenfalls behaupten jene, die in der Marktwirtschaft eine höchst unfaire Veranstaltung erkennen. Ein Wirtschaftssystem, das nicht alle besserstellt, sondern nur jene, die ohnehin schon im Überfluss leben.
Es wird von unten nach oben umverteilt, die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Deshalb brauche es mehr Staat und weniger Markt. Aber ist die Lage wirklich so schlimm, wie von den Kapitalismuskritikern behauptet? Wird tatsächlich von unten nach oben umverteilt – oder ist es nicht genau umgekehrt?
Mittlerweile zeigen sich selbst unverdächtige Organisationen, wie der Klub der reichen Länder (OECD), über die steigende Ungleichheit schockiert. Obwohl die Weltwirtschaft kontinuierlich wachse, habe sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter geöffnet. Das, so der allgemeine Tenor, sei eine Schande, aber eben typisch für die freie Marktwirtschaft, die uns verteilungstechnisch ins Mittelalter zurückbefördert habe: Eine kleine Clique von Privilegierten lebe in Saus und Braus, während es einer steigenden Zahl von Menschen am Nötigsten fehlte.
Nun ist nicht zu bestreiten, dass es selbst in den wohlhabendsten Ländern der Welt noch immer Armut gibt. Aber wie ist so etwas überhaupt möglich? Etwa in einem Land wie Österreich, das knapp 30 Prozent seiner jährlichen Wirtschaftsleistung unter dem Titel „Soziales“ umverteilt. Das sind immerhin knapp 90 Milliarden Euro im Jahr. Dennoch leben laut Armutsstatistikern eine Million Menschen an oder unter der Armutsgrenze. Diese erschütternde Bestandsaufnahme lässt eigentlich nur vier Schlüsse zu: 1. Das Geld kommt bei den Menschen nicht an. 2. Die staatliche Umverteilung zementiert die Armut ein. 3. Die statistischen Werte spiegeln die Realität nicht wider, sie rechnen das Land vielmehr arm, um immer mehr Umverteilung zu rechtfertigen. Oder 4. Die Marktwirtschaft macht die Armen tatsächlich ärmer, um die Reichen noch reicher zu machen.
Um herauszufinden, wo das Problem liegt, ist zu klären, wie man „Ungleichheit“ überhaupt misst. In der Wirtschaftswissenschaft bedient man sich des sogenannten Gini-Koeffizienten, der in extremis bei 0 eine komplette Gleichverteilung und bei 1 eine Konzentration des Vermögens bei einer Person anzeigt. Je näher er also bei 1 liegt, desto ungleicher sind Vermögen und Einkommen verteilt, je stärker sich der Koeffizient 0 annähert, desto „gleicher“. In Österreich liegt dieser Gini-Koeffizient vor Umverteilung bei 0,47, nach staatlicher Intervention zwischen 0,26 und 0,28 (OECD). Damit zählt das Land zu den egalitärsten in der ganzen Welt.
Ein Wert in der Nähe von null ist aber nicht zwangsläufig gut. In Nordkorea oder auf Kuba beispielsweise sind die Einkommen besonders gleichmäßig verteilt, allerdings haben alle Menschen so gut wie nichts. Gleichzeitig ist eine sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich nicht unbedingt schlecht. Wandern beispielsweise gut ausgebildete Kinder armer chinesischer Bauern in boomende Industriegebiete ab, um dort ein Zigfaches ihrer Eltern zu verdienen, nimmt die Ungleichheit statistisch gesehen zu. Das, obwohl die Eltern absolut betrachtet genauso arm sind wie eh und je. Relativ betrachtet sind sie aber ärmer geworden, weil es ihren Kindern mit einem Schlag viel besser geht. Niemand hat verloren, nur die Jungen haben gewonnen, wovon auch ihre Eltern profitieren, weil sie in der Regel von ihren Nachkommen unterstützt werden. Dennoch wächst die Kluft zwischen Arm und Reich.
In kaum einem anderen Land hat sich die Schere zwischen Arm und Reich derart stark geöffnet wie in China. Gleichzeitig wurde dort die Armut so erfolgreich zurückgedrängt wie sonst nirgendwo auf der Welt: Laut Weltbank wurden seit Anfang der 1980er-Jahre 680 Millionen Chinesen aus extremer Armut befreit. Als verlässlichste Fluchthelfer aus der Armut erwiesen sich die wirtschaftliche Öffnung Chinas und das damit ins Land strömende Kapital. Laut dem britischen Economist hat der Kapitalismus in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht nur in China ganze Arbeit geleistet: Zwischen 1990 und 2010 sank die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen in den Entwicklungsländern von 43 Prozent der Bevölkerung auf 21 Prozent[1]. Das bedeutet, dass knapp eine Milliarde Menschen aus bitterster Armut befreit wurden. In einer Zeit, in der die Welt von einer fortschreitenden Öffnung der Märkte geprägt war.
Gleichzeitig wurden die Reichen allerorts noch schneller wohlhabender als die Armen. Das ist auch einer jener Punkte, den die Menschen in den westlichen Wohlstandshochburgen der Marktwirtschaft nicht verzeihen können: Dass einige stärker profitieren als andere – auch wenn alle Beteiligten besser gestellt sind als vorher. Deshalb gilt eine sich öffnende Schere als unliebsame Entwicklung, die schleunigst zu korrigieren sei. Der Staat müsse gegensteuern, um die wachsende Ungerechtigkeit zu beseitigen. Hierzulande wird nämlich eine gleichmäßige Verteilung mit einer „gerechten“ Verteilung gleichgesetzt. Das ist auch der Grund dafür, dass kein Land der Welt so stark in die Einkommensverteilung eingreift wie Österreich. Vergleicht man die Gini-Koeffizienten vor und nach Umverteilung, wird klar: Wir sind Weltmeister – in keinem Land der Welt wird das Markteinkommen so stark vom umverteilenden Staat aufgepäppelt wie hierzulande:
Das ist das Ergebnis eines progressiv ausgelegten Steuersystems und einer großflächigen Versorgung der Haushalte mit öffentlichen Transfers. Bei den Lohn- und Einkommensteuern hat Österreich mit 50 Prozent einen der OECD-weit höchsten Spitzensteuersätze, der noch dazu bei vergleichsweise niedrigen Einkommen zu greifen beginnt (60.000 Euro). In Folge dieser starken Steuerprogression tragen die obersten sieben Prozent der Einkommenspyramide 50 Prozent des Lohn- und Einkommensteueraufkommens, wobei sie 27 Prozent der Einkommen auf sich vereinen. Die obersten ein Prozent, die auf zehn Prozent des Gesamteinkommens kommen, schultern 22 Prozent des gesamten Lohn- und Einkommensteueraufkommens[2].
Komplettiert wird die Umverteilung in einem zweiten Schritt über das Auszahlen staatlicher Transfers, wie Gesundheitsleistungen, Pflegegeld, Bildungsleistungen, Familienleistungen, Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Sozialhilfe, Wohnbauhilfe und Hinterbliebenenleistungen. Mit dem Resultat, dass das unterste Drittel 56 Prozent seines verfügbaren Einkommens vom Staat bezieht (bei den untersten zehn Prozent steigt dieser Wert auf 82 Prozent). Beim mittleren Drittel sind es 31 Prozent und beim obersten immerhin noch 16 Prozent. Laut OECD gab es Mitte der 2000er-Jahre kein Land auf der Welt, in dem die Sozialtransfers einen größeren Anteil an den verfügbaren Haushaltseinkommen erreicht haben als in Österreich (die aktuellste Untersuchung stammt aus dem Jahr 2008).
Die Umverteilung in Österreich ist also massiv. Die Armen werden dadurch weniger arm und die Reichen weniger reich. Umverteilungsfreundliche Politiker werden dennoch nicht müde, die „Reichen“ und „Besserverdienenden“ anzuprangern und die populistische, aber ökonomisch nicht haltbare These zu verbreiten, die Armen seien arm, weil die Reichen reich seien. So wäre das in einer Welt ohne Wirtschaftswachstum. Heute ist die Wirtschaft aber kein statischer Kuchen, der verteilt wird. Sondern ein permanent wachsender, der für alle größere Stücke abwirft. Auch, wenn die zu verteilenden Stücke nicht gleich groß sind.
Allerdings geht es der Politik in Österreich längst nicht mehr nur um die Existenzsicherung der Benachteiligten, sondern um die Nivellierung und um die Abschöpfung hoher Einkommen. Der Anreiz zu außerordentlichen Leistungen wird dadurch reduziert. Eine an den Neid appellierende Politik bewirkt letztlich nur, dass es zwar weniger Reichtum gibt, dass aber auch jene Produktivität sinkt, die eine relative Besserstellung aller ermöglicht. Dies ist im Hinblick auf die globalen Herausforderungen mehr als nur ein Handicap. Ein reicher Staat kann sich ein ökonomisches Fehlverhalten zwar länger leisten als ein armer, er wird später aber umso härter getroffen. Zudem birgt die fortschreitende Umverteilung auch demokratiepolitische Risiken. Für die umverteilenden Politiker kommt es schließlich darauf an, den Empfängerkreis der staatlichen Segnungen möglichst groß, die Gruppe der betroffenen Zahler dafür so klein wie möglich zu halten. Nur so lassen sich über Umverteilung die Wahl und Wiederwahl eines „benevolenten“ Politikers sichern, der sich mit fremdem Geld wacker dem Kampf gegen die ausufernde Armut stellt. Dass ein System, in dem immer größere Mehrheiten zulasten von immer kleiner werdenden Minderheiten leben wollen, nicht zukunftstauglich ist, wird aber niemand bezweifeln wollen. Nichtsdestotrotz wird schon demnächst eine Mehrheit von Nettoempfängern über die Höhe der Belastungen der kleineren Gruppe von Nettozahlern abstimmen. Ein riskantes demokratiepolitisches Experiment. Dabei ist eine partielle Enteignung durch den umverteilenden Staat zwar zulässig, sie muss aber laut Verfassung diskriminierungsfrei und verhältnismäßig erfolgen.
Das Gebot der Diskriminierungsfreiheit scheint im Falle der Umverteilung allein dadurch verletzt zu sein, dass sich eine breite Mehrheit (die Empfänger und Umverteiler) zulasten einer kleineren Gruppe (Nettozahler) besserstellt, weil sie über die größere Stimmengewalt verfügt. Laut Statistik Austria sind 6,3 Millionen Bürger wahlberechtigt, davon sind rund 1,9 Millionen Nettozahler[4]. Friedrich August von Hayek argumentierte, dass eine einseitige Maßnahme zulasten einer Minderheit nur dann gerechtfertigt sei, wenn die sogenannte „Double Majority Rule“ eingehalten wird. Wenn also die Mehrheit der Minderheit für die von der Politik gewünschte Maßnahme votiert[5].
Nun könnte man sich im konkreten Fall sehr gut vorstellen, dass sich unter der Minderheit der Reichen eine breite Mehrheit dafür ausspricht, freiwillig etwas zur Verbesserung der Situation hilfsbedürftiger Menschen beizusteuern. Ganz anders dürfte dies aber aussehen, wenn, wie bei der gegenwärtigen Umverteilung der Fall, diese unter Zwang einen Großteil ihrer Verdienste nicht nur für die Unterstützung einzelner Personen, sondern zur Alimentierung einer breiten (anonymen) Masse abzutreten haben. Wenn wie in Österreich ein Drittel der Bevölkerung mehr als die Hälfte seines Einkommens vom umverteilenden Staat erhält und die staatlichen Sozialtransfers laut OECD fast 36 Prozent der Gesamteinkommen ausmachen, werden die Nettoempfänger systematisch von der gebenden Hand korrumpiert und geradezu entmündigt. Gleichzeitig hat die geschröpfte Minderheit kein allzu großes Interesse mehr an einem weiterführenden sozialen Engagement.
Unbestritten ist, dass es immer noch Armut gibt. Armut, die es zu bekämpfen gilt. Unübersehbar ist aber auch der Versuch, die Zahl der Armutsgefährdeten künstlich hochzurechnen. Laut EU-Definition lebt jemand in Armut, der zumindest vier der folgenden Kriterien erfüllt: mit der Miete im Rückstand zu sein; die Wohnung nicht ordentlich heizen zu können; sich keine Waschmaschine kaufen zu können; sich keinen Pkw leisten zu können; keinen Farbfernseher zu besitzen; nicht mindestens einmal im Jahr auf Urlaub fahren zu können; nicht regelmäßig Fisch, Fleisch oder Gemüse kaufen zu können; weder Telefon noch Handy zu besitzen; unerwartete Ausgaben in Höhe von 950 Euro nicht begleichen zu können. Das betrifft in Österreich vier Prozent der Bevölkerung – 96 Prozent also nicht.
War früher arm, wer kein Dach über dem Kopf und nichts zu essen hatte, ist heute arm, wer am gesellschaftlichen Leben nicht vollwertig teilhaben kann. Das ist ein deutlicher Fortschritt. Das vorrangige Ziel muss nun sein, den größten Armutsverursacher ins Visier zu nehmen: die steigende Arbeitslosigkeit. Die ärmsten Regionen der Welt haben das in den vergangenen 20 Jahren sehr erfolgreich getan, indem sie für ein investorenfreundliches Umfeld gesorgt und auf diese Weise eine Milliarde Menschen aus bitterster Armut befreit haben. Auch wenn sich dadurch die statistische Schere zwischen Arm und Reich geöffnet hat. Zum Wohle aller.
Fußnoten
Fast schon im Wochentakt schlagen bei den Unternehmen neue Regeln auf. Es kann schon längst nicht mehr als EU-Bashing gelten, den Regelungswahn der Brüsseler Schreibtischakrobaten als unmäßig zu kritisieren. Wir werfen einen Blick in die Giftküche der Bürokratie.
Schwerpunkt 1: Mehr Wachstum braucht das Land! Wirtschaftswachstum ist in Österreich zu einem Fremdwort geworden. Nicht nur in der Statistik und in den Prognosen der Institute ist es inzwischen weitgehend der Stagnation gewichen. Auch in den Wahlprogrammen der Parteien kommt es kaum noch vor. Man sollte ja erwarten, dass ein Land, dessen reales Br
Wohnen ist in Österreich nicht teurer als in anderen europäischen Ländern. Die Wohnkostenbelastung liegt unter dem EU-Schnitt. Und doch gibt es Verbesserungsbedarf: Künftige Regierungen sollten den Aufbau von Wohneigentum in der Mitte der Gesellschaft erleichtern, den geförderten Mietmarkt treffsicherer machen und dafür sorgen, dass ausreiche
Der Sozialstaat ist eine Errungenschaft, um die uns viele Menschen auf der Welt beneiden – aber auch eine finanzielle Belastung, die sich immer schwerer stemmen lässt. Die nächste Regierung wird um Sparmaßnahmen nicht herumkommen, wenn das System zukunftsfit bleiben soll. Für die Bürger muss das nicht unbedingt Verschlechterungen mit sich br
Eigentlich wollte die Regierung ja die Staatsschulden senken und die Bürger entlasten. Beides ist leider spektakulär misslungen. In der kommenden Legislaturperiode muss die Politik das Ruder herumreißen und einen Sparkurs einschlagen. Die gute Nachricht: Es gibt ziemlich viele Maßnahmen, die man setzen kann.
Österreich gibt sehr viel Geld für Bildung aus – und bekommt dafür nur mittelmäßige Resultate. In Schulnoten ausgedrückt verdient der Bereich bestenfalls ein „Befriedigend“. Dabei wäre es gar nicht so schwer, Einserschüler zu werden, auf dem Bildungsmarkt gibt es viele gute Ideen. Die nächste Regierung muss das Rad also nicht neu erf
Gegründet um das Land in wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Belangen zu öffnen und neue Antworten auf die großen Herausforderungen zu liefern.
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