Die Österreicher leben er freulicherweise immer länger. Deshalb, so argumentieren alle Pensionsexperten, müssen wir alle länger arbeiten. Anderenfalls drohe das staatliche Pensionssystem zu kollabieren.
Insbeson dere deshalb, weil eine wachsende Zahl von Pensionisten einer schrumpfenden Zahl von Einzahlern gegenübersteht. Experten sind sich darin einig, die Politiker nicht. Sie argumentieren gerne: Wenn Ältere länger im Arbeitsprozess bleiben, finden Jüngere keinen Job. Auch wenn diese These hinreichend widerlegt wurde.
Der Grund, weshalb viele Experten über längeres Arbeiten nachdenken, ist ausgesprochen erfreulich: Unsere Lebenserwartung steigt, um fast drei Monate pro Jahr. Frauen, die 1960 in Österreich geboren wurden, hatten zum Zeitpunkt ihrer Geburt eine Lebenserwartung von 72 Jahren. Frauen, die heute zur Welt kommen, werden im Schnitt 84 Jahre alt. Bei Männern ist die Lebenserwartung seit 1960 sogar noch stärker gestiegen, von 65 auf 79 Jahre. Wahrscheinlich ist, dass sich durch eine weitere Verbesserung unserer Lebensumstände und der medizinischen Möglichkeiten die Lebenserwartung bereits geborener Männer und Frauen sogar noch weiter erhöhen wird. Zusammen mit einer sinkenden Geburtenrate hat dieser Anstieg große Auswirkungen auf die Bevölkerungsstruktur: Unser Land wird älter. 8,5 Prozent aller Österreicher sind über 75 Jahre alt, im Jahr 1960 war das nur 4 Prozent der Bevölkerung vergönnt. Gleichzeitig gibt es aber weniger Kinder, die Unter-15-Jährigen stellen nur 14 Prozent der Bevölkerung. 1960 waren es noch 22 Prozent. Sie werden Beschäftigung brauchen – einen guten Job, um sich finanzieren zu können. Aber wo sollen diese Jobs herkommen, wenn die ältere Generation nicht Platz macht?
Ökonomisch betrachtet ist die Sache klar: Wer länger lebt, muss länger arbeiten. Dass das unumgänglich ist, zeigt folgendes vereinfachte Rechenbeispiel: Ein Mann, der seine erste Arbeit im Alter von 20 Jahren aufgenommen hat, spart seither konsequent 25 Prozent seines Einkommens für die Zeit der Pension. Diese soll monatlich etwa so hoch sein wie die Hälfte seines durchschnittlichen Lebenseinkommens. Bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren muss er bis zu seinem 60. Lebensjahr arbeiten, wenn er in den nächsten 20 Jahren von seinen Ersparnissen leben will.[1] Wenn seine Lebenserwartung auf 90 Jahre steigt, muss er fast bis zum 67. Lebensjahr arbeiten, um dasselbe Pensionsniveau 23 Jahre lang genießen zu können. Steigt seine Lebenserwartung gar auf 100 Jahre, muss er bis zu seinem 73. Geburtstag arbeiten, um eine vergleichbare Pension 27 Jahre lang finanzieren zu können. Dieses – zugegebenermaßen stark vereinfachte – Beispiel zeigt, dass ohne zusätzliche Ersparnisse, ein niedrigeres Pensionsniveau oder ohne eine staatliche Förderung (die die jüngere Generation belasten würde), jeder länger erwerbstätig sein muss, wenn die Lebenserwartung steigt.
Viele OECD-Länder haben deshalb ihr öffentliches Pensionssystem reformiert und schaffen gezielt Anreize, um Ältere länger im Arbeitsprozess zu halten. Das führt zu Diskussionen – nicht nur über die Frage, ob es zumutbar ist, dass wir länger arbeiten als früher, sondern auch, ob das im Hinblick auf die Jugendarbeitslosigkeit überhaupt sinnvoll ist. Gerne wird behauptet, dass eine längere Erwerbstätigkeit der älteren Generation negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt für Jüngere habe. Etwa wenn es heißt: „Was hilft es, wenn der Opa Arbeit hat, dafür aber das Enkerl keine?“ Damit das stimmen kann, müssten aber diese beiden Gruppen um Arbeitsplätze konkurrieren, ein jüngerer Arbeitnehmer also völlig problemlos durch einen älteren ersetzt werden können – und umgekehrt. Ältere und Jüngere müssten perfekte Substitute sein, und unsere Volkswirtschaft über eine fixe Arbeitsmenge verfügen. Diese Lump-of-labour-Hypothese, also die Vorstellung von einem unveränderlichen Arbeitsvolumen, ist nach wie vor sehr weit verbreitet.
In der wissenschaftlichen Literatur gibt es Zweifel daran, dass diese Hypothese hält.[2] Viele Ökonomen bezeichnen sie deshalb auch nicht als thesis, sondern als fallacy – einen Irrtum. Denn der Bedarf an Arbeit verändert sich gewöhnlich mit der konjunkturellen Entwicklung: Höhere Beschäftigungszahlen bringen eine höhere Inlandsnachfrage mit sich, weil die Kaufkraft steigt – und dieser höhere Konsum führt zu mehr Produktion und damit zu einer weiter steigenden Nachfrage nach Arbeit. Sehr anschaulich zeigt das ein Blick auf die Situation erwerbstätiger Frauen in den OECD-Ländern des 20. Jahrhunderts: Die Zahl der am Arbeitsmarkt teilnehmenden Frauen ist über die Jahre und Jahrzehnte kräftig gestiegen. Die Frauen haben die Männer aber nicht ersetzt. Vielmehr führt das höhere Haushaltseinkommen zu einer höheren Nachfrage – nach Gütern wie auch auf dem Arbeitsmarkt.[3]
Um eine Arbeitskraft gegen eine andere auszutauschen, müssen beide ähnliche Fähigkeiten haben. In einer Gesellschaft, in der es zunehmend um individuelles Wissen geht und nicht mehr um das monotone Zusammenstecken von Normteilen am Fließband, ist genau das aber vielfach nicht mehr der Fall. Jüngere und ältere Arbeitskräfte zeichnen sich durch verschiedene Arbeitseigenschaften aus, mit denen sie sich weitaus besser ergänzen als gegenseitig ersetzen würden. Ältere Arbeitnehmer sind üblicherweise sehr erfahren, aber ihre schulische und universitäre Ausbildung liegt meist lange zurück. Sie sind häufiger in traditionelleren Wirtschaftszweigen vertreten, die sich möglicherweise weniger dynamisch entwickeln. Oftmals sind ältere Arbeitnehmer physisch auch nicht mehr so belastbar wie ihre jüngeren Kollegen. Jüngere Arbeitskräfte hingegen folgen gern neuen Trends und Technologien. Sie stehen am Anfang ihrer Wissensakkumulation und sind deshalb noch flexibler, haben aber natürlich auch viel weniger Erfahrung. Der Erwerb neuer Qualifikationen ist meist aufwendig – für ältere Arbeitnehmer rechnen sich die entstehenden Zusatzkosten oft nicht mehr, weil sie die neuerworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten nur noch wenige Jahre zum Wohl ihres Arbeitgebers einsetzen werden.
Seit 2004 ist in Österreich die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 55 und 64 Jahren von rund 261.100 auf 464.700 gestiegen – das entspricht einem Anstieg von 78 Prozent. Im selben Zeitraum ist die Arbeitslosenzahl dieser Altersgruppe von circa 11.700 auf 18.400 gestiegen – also um 58 Prozent. Die Arbeitslosenzahl der 15- bis 24-Jährigen ist von 57.300 auf 58.200 gestiegen und damit praktisch konstant geblieben. Selbst wenn in dieser Betrachtung einige Faktoren nicht berücksichtigt werden, so zeigt sie dennoch, dass die Zahl der Arbeitslosen im unteren Alterssegment der 15- bis 24-Jährigen nicht gestiegen ist, während gleichzeitig deutlich mehr Ältere zwischen 55 und 64 Jahren in Beschäftigung gekommen oder geblieben sind. Auch die Zahl der arbeitslosen Älteren stieg bis 2010 kaum.
Der Frage, ob sich eine höhere Beschäftigungsrate Älterer negativ auf die Beschäftigungschancen der Jüngeren auswirkt, wurde in einer Vielzahl von empirischen Studien nachgegangen. Eine Studie der OECD aus dem Jahr 2013 zeigt für ihre Mitgliedsländer sogar einen positiven Effekt: Demnach erhöht eine höhere Beschäftigungsrate Älterer auch jene der Jüngeren. Ebenso stellen Munnell und Wu (2012) für die USA fest, dass eine hohe Beschäftigungsrate im Alter die Arbeitslosigkeit der Jüngeren gesenkt und deren Gesamtarbeitsstunden sowie Einkommen erhöht hat. Gruber und Wise (2010) finden in ihrer Auswertung von 12 Länderstudien kaum Anzeichen dafür, dass ältere Arbeitnehmer die Arbeitsmöglichkeiten der Jüngeren blockieren. Die Studie von Kalwij et al. (2010) findet ebenso keinen signifikanten Effekt. Böheim (2014) zeigte für zwölf OECD-Länder, dass eine höhere Beschäftigungsrate der Älteren zu einer höheren Beschäftigungsrate der Jüngeren führte.
Auch eine Studie der Agenda Austria (Christl, Kucsera und Lorenz, 2015) hat diese Frage untersucht.[4] Die Ökonomen kommen darin zu dem Ergebnis, dass eine höhere Beschäftigungsrate älterer Arbeitnehmer zwischen 55 und 64 Jahren nicht nur keine negativen Effekte auf die jüngeren Arbeitnehmer von 15 bis 24 hat, und sich auch nicht auf die Arbeitslosenquote der 25- bis 54-Jährigen auswirkt. Stattdessen könnte eine noch höhere Beschäftigungsrate älterer Arbeitnehmer sogar zu einer Verminderung der Arbeitslosenquoten in den anderen Altersklassen um 0,97 bis 1,5 Prozentpunkte führen. Dahinter könnte, wie bereits erwähnt, die höhere Nachfrage stehen, die durch die Löhne für die Älteren entsteht, und die zu zusätzlichen Jobs führt. Oder auch, dass Ältere und Jüngere in einem Betrieb oft komplementär sind, etwa indem die einen die anderen ausbilden.
Die Erhöhung des gesetzlichen Pensionsalters in Österreich könnte dazu führen, dass eine höhere Zahl älterer Menschen arbeitslos wird. Staubli und Zweimüller (2011) argumentieren beispielsweise, dass die stufenweise Anhebung des Pensionsantrittsalters in Österreich von 2000 und 2006 nicht nur zu einem Anstieg der Beschäftigungsrate in der entsprechenden Altersgruppe geführt habe, sondern gleichzeitig auch zu einem Anstieg der Arbeitslosenrate – um zehn Prozentpunkte bei den Männern und elf Prozentpunkte bei den Frauen. Ein nicht unerheblicher Grund für diese Erhöhung der Arbeitslosenrate ist allerdings der Umstand, dass Österreich 2004, also während des Untersuchungszeitraums, die „vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit“ aufhob. Arbeitslose Ältere, die vorher zu den Pensionisten gezählt worden wären, gingen nun in die Berechnung der Arbeitslosenrate mit ein.
Dennoch ist die Befürchtung, dass die Arbeitslosenrate unter den Älteren wachsen könnte, nicht völlig aus der Luft gegriffen. Für Arbeitgeber muss die Beschäftigung eines älteren Arbeitnehmers attraktiv sein, wenn die Nachfrage und die Bereitschaft, Ältere einzustellen, erhöht werden soll. Staubli und Zweimüller (2011) stellten zu Recht fest, dass „in einem flexibleren Arbeitsmarkt (wie zum Beispiel dem amerikanischen) ein höheres Frühpensionsantrittsalter vermutlich eine schwächere Auswirkung auf die Arbeitslosigkeit“ hätte. Um Ältere besser und vor allem länger im Arbeitsmarkt zu halten, braucht es daher auch neue Konzepte. Etwa eine flachere Lohnkurve, indem das Lebenseinkommen gleichmäßiger über die Arbeitszeit verteilt wird. Arbeitnehmer sollten nicht kurz vor der Pensionierung am meisten verdienen, sondern am Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit. Und ein weniger strikter Kündigungsschutz würde Unternehmer weniger oft davor zurückschrecken lassen, ältere Arbeitnehmer anzustellen.
Die Befürchtung, mit der Einstellung oder Weiterbeschäftigung eines älteren Arbeitnehmers zu einer Erhöhung der Jugendarbeitslosigkeit beizutragen, ist allerdings unbegründet. Denn das Gegenteil ist richtig: Nur in einer Gesellschaft, in der auch ältere Menschen noch erwerbstätig sind und konsumieren, entsteht genug Wachstum und Arbeit für alle.
Fußnoten
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