2004 hat die deutsche Regierung von SPD und Grünen 53 von 94 Handwerken liberalisiert, deren Ausübung bis dahin eine Meisterprüfung erforderte. 41 Handwerke sind weiterhin reguliert, aber nur für sechs davon ist nach wie vor eine Meisterprüfung nötig. In 35 Gewerben gilt nun eine „Altgesellenregel“: Es darf sie ausüben, wer nach der Gesellenprüfung sechs Jahre in einem Unternehmen tätig war, davon vier Jahre in leitender Funktion.
Im Zuge dieser Reform machte und macht die deutsche Handwerkskammer ähnlich wie die Wirtschaftskammer in Österreich Stimmung gegen die Neuregelung. So erschien auch 2016 wieder eine Studie des Volkswirtschaftlichen Instituts für Mittelstand und Handwerk an der Universität Göttingen (ifh Göttingen) zu der Thematik.[1] Darin argumentiert der Autor, dass die Reform ein Fehler gewesen sei und kritisiert insbesondere, dass mit der Reform ein Rückgang der Lehrlingszahlen einherging. Neben dem Mangel an quantitativen Analysen ist hervorzuheben, dass die Landesvertretung der Handwerkskammern Niedersachsen im ifh Göttingen den Vorsitz ausübt und die Reihe der ordentlichen Mitglieder aus den einzelnen Kammern besteht.
Quantitative Analysen beispielsweise vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)[2] oder des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung[3] kommen zum gegenteiligen Schluss. Sie bestreiten einen kausalen Zusammenhang zwischen der Zahl der Lehrlinge und der Reform.
Ähnliches geschieht in Österreich. In ihrer Presse-Aussendung vom 18. August 2016[4] schreibt die Wirtschaftskammer (WKÖ):
“Mit der Freigabe einer Vielzahl der reglementierten Gewerbe (…) ist in Deutschland die Zahl der Lehrlinge im Handwerk um fast ein Viertel zurückgegangen. 95 Prozent der Lehrlinge werden heute in meisterpflichtigen Branchen ausgebildet, nur 5 Prozent in den nicht reglementierten Gewerben.”
Auch in der folgenden Aussendung vom 6. September 2016[5] argumentiert die WKÖ, dass die Lehrlingszahl in Deutschland aufgrund der Liberalisierung zurückgegangen sei und dass bei einer Liberalisierung der Gewerbeordnung Ähnliches in Österreich folgen würde:
“Der Sukkus: 30.000 Lehrplätze, der derzeit rund 46.000, würden in die dann neuen, zulassungsfreien Branchen, wandern. Legt man dem die Erfahrungen aus Deutschland zu Grunde, dass die Ausbildungsleistungen branchenweise bis zu 70 Prozent gesunken ist, sind mittelfristig 20.000 Lehrplätze in Gefahr, langfristig kann die Ausbildungsleistung gegen Null tendieren.”
Diese Argumentation der WKÖ ist nicht richtig, wie wir in den folgenden Absätzen ausführen. Zunächst befassen wir uns mit dem behaupteten Zusammenhang zwischen der Reform 2004 und dem Rückgang der Lehrlingszahlen sowie mit dem Hinweis darauf, dass nur 5 Prozent der Lehrlinge in den nicht reglementierten Gewerben ausgebildet werden.
Im Jahr 1998 wurden nach Angaben des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) 625.049 Lehrlinge in Deutschland ausgebildet. Darunter befanden sich über 500.000 in jener Gruppe der Gewerbe, für die auch nach 2004 noch ein Befähigungsnachweis verlangt wird (Gruppe A). 31.682 Lehrlinge erlernten ein Gewerbe, das seit 2004 keinen Befähigungsnachweis mehr verlangt (Gruppe B1). Schon Jahre vor der Reform gab es also in den nicht reglementierten Gewerben nur wenige Lehrlinge.
2003, also ein Jahr vor Einsetzen der Reform, ist die Zahl der Lehrlinge auf insgesamt 502.296 gesunken – auf 414.594 bei den reglementierten Gewerben und 22.603 bei den freigegebenen. Das bedeutet, dass schon vor der Reform die Zahl der Lehrlinge in Deutschland gesunken ist (um 23 Prozent bei den reglementierten und um 30 Prozent in der Gruppe der liberalisierten).[6]
Die Reform im Jahr 2004 hat nichts an diesem Prozess geändert. Zwischen 2004 und 2015 sank die Anzahl der Lehrlinge weiter.[7] 2015 gab es insgesamt 364.363 Lehrlinge – also um 42 Prozent weniger als im Jahr 1998.
Die graphische Analyse (Abbildung 1) verdeutlicht diese Entwicklung.
Hier ist klar ersichtlich, dass der Trend des Rückgangs in der Lehre lange vor der Reform 2004 begonnen hat. Darüber hinaus sehen wir, dass die zwei Kurven, die den Rückgang der Lehrplätze in der Gruppe A (reglementiert) und B1 (liberalisiert) darstellen, im gesamten Zeitraum parallel verlaufen sind, d.h. sowohl vor als auch nach der Reform gibt es keine statistischen Unterschiede zwischen den beiden Gewerbegruppen, was die Verringerung der Ausbildungsplätze betrifft.
Bezüglich der Aussendung der Wirtschaftskammer lässt sich also festhalten: Die Zahl der Lehrlinge ging in der Tat zurück. Allerdings nicht mit der Freigabe der Berufe, sondern unabhängig von der Freigabe; es gibt hier keinen Zusammenhang. Darüber hinaus sehen wir, dass (wie oben detailliert beschrieben) bereits im Jahr 1998 nur etwa 5 Prozent aller Lehrlinge in freien Gewerben ausgebildet wurden und die heutigen 5 Prozent somit keine Veränderung darstellen.
Nun zur Aussage der WKÖ, eine Liberalisierung berge die Gefahr, dass viele Lehrlinge in die unregulierten Gewerbe abwandern würden, wo aber wenig ausgebildet wird.
Die Zahl der Lehrlinge in Deutschland ist zwischen 1998 und 2015 nicht um 70 Prozent gesunken, wie die WKÖ behauptet, sondern, wie wir bereits gezeigt haben, um 42 Prozent. 70 Prozent waren es allenfalls in bestimmten Berufsgruppen. In der Gruppe der freigegebenen Gewerbe (B1) betrug der Rückgang 55 Prozent. Die Behauptung, dieser Rückgang sei durch die Reform verursacht, lässt sich wissenschaftlich nicht erhärten, denn es gibt keine statistische Evidenz, dass nach 2004 der Rückgang in den Gruppen der regulierten und der liberalisierten Gewerbe anders verlaufen ist.
Die WKÖ stellt eine kausale Verbindung zwischen dem Rückgang und der Reform her, die wissenschaftlich nicht gestützt ist. Selbst wenn man sich über diese Tatsache hinwegsetzt
und einen kausalen Zusammenhang annimmt, so wären maximal 10 Prozentpunkte des Rückgangs auf die Reform zurückzuführen – dies ist, wie die Grafik ”Handwerk in Deutschland” zeigt, die größte vorliegende Differenz zwischen regulierten und freigegebenen Gewerben seit 2004.
Während die freien Gewerbe 2004 in Deutschland 22.185 Lehrlinge ausgebildet haben, waren es im Jahr 2015 dann 14.682. Da maximal 10 Prozent von diesem Rückgang auf die Reform zurückzuführen sind, bedeutet dies, dass die Reform in Deutschland maximal etwa 750 Lehrplätze gekostet hat.
Die Aussage der KMU Forschung Austria, es seien 20.000 Ausbildungsplätze gefährdet, ist daher ebenfalls falsch. Unter der Annahme, dass Österreich einen ähnlichen Verlauf wie in Deutschland hätte, wären von den 30.000 Ausbildungsplätzen im Zeitraum von 10 Jahren maximal 3.000 gefährdet.
Fußnoten
Die Staatsschulden sind rasant gestiegen, das Defizit wächst. Österreich muss rasch Maßnahmen setzen, um das Budget zu sanieren. Aber wie soll das gehen, ohne die Wirtschaftskrise zu verschärfen? Die Agenda Austria hat ein Konzept erarbeitet, mit dem der Staat schon im kommenden Jahr knapp 11 Milliarden Euro einsparen kann. Bis zum Ende des Jah
Fast schon im Wochentakt schlagen bei den Unternehmen neue Regeln auf. Es kann schon längst nicht mehr als EU-Bashing gelten, den Regelungswahn der Brüsseler Schreibtischakrobaten als unmäßig zu kritisieren. Wir werfen einen Blick in die Giftküche der Bürokratie.
Schwerpunkt 1: Mehr Wachstum braucht das Land! Wirtschaftswachstum ist in Österreich zu einem Fremdwort geworden. Nicht nur in der Statistik und in den Prognosen der Institute ist es inzwischen weitgehend der Stagnation gewichen. Auch in den Wahlprogrammen der Parteien kommt es kaum noch vor. Man sollte ja erwarten, dass ein Land, dessen reales Br
Wohnen ist in Österreich nicht teurer als in anderen europäischen Ländern. Die Wohnkostenbelastung liegt unter dem EU-Schnitt. Und doch gibt es Verbesserungsbedarf: Künftige Regierungen sollten den Aufbau von Wohneigentum in der Mitte der Gesellschaft erleichtern, den geförderten Mietmarkt treffsicherer machen und dafür sorgen, dass ausreiche
Der Sozialstaat ist eine Errungenschaft, um die uns viele Menschen auf der Welt beneiden – aber auch eine finanzielle Belastung, die sich immer schwerer stemmen lässt. Die nächste Regierung wird um Sparmaßnahmen nicht herumkommen, wenn das System zukunftsfit bleiben soll. Für die Bürger muss das nicht unbedingt Verschlechterungen mit sich br
Eigentlich wollte die Regierung ja die Staatsschulden senken und die Bürger entlasten. Beides ist leider spektakulär misslungen. In der kommenden Legislaturperiode muss die Politik das Ruder herumreißen und einen Sparkurs einschlagen. Die gute Nachricht: Es gibt ziemlich viele Maßnahmen, die man setzen kann.
Gegründet um das Land in wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Belangen zu öffnen und neue Antworten auf die großen Herausforderungen zu liefern.
Lernen Sie uns kennenSie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Facebook. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenSie müssen den Inhalt von reCAPTCHA laden, um das Formular abzuschicken. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten mit Drittanbietern ausgetauscht werden.
Mehr InformationenSie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Instagram. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenSie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von X. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr Informationen