Es gibt noch eine weitere Baustelle im österreichischen Steuerwesen, die ständig steilere Hürden schafft: die kalte Progression. Sie kommt einer schleichenden Steuererhöhung gleich und entsteht dadurch, dass zwar Bruttolöhne und Preise laufend steigen, die Tarifstufen des Steuersystems aber unverändert bleiben. Wenn die kalte Progression nicht abgeschafft oder ausgeglichen wird, dann wird selbst eine ambitionierte Steuerreform mit Elan sukzessive wieder verpuffen.
Dabei geht es nicht nur darum, dass jemand mit einer Lohnerhöhung in die nächste Steuerklasse rutscht. Das ist schnell anhand eines Beispiels illustriert: Martha Mayer verdiente im Jahr 2016 genau 3.000 Euro im Monat, das entspricht ungefähr dem mittleren Bruttogehalt eines unselbstständig Beschäftigten.
Wenn ihr Lohn jährlich nur um die allgemeine Inflationsrate gestiegen ist und künftig um die prognostizierte Teuerungsrate wächst, verdient sie 2022 rund 3.350 Euro brutto im Monat. Ihr Gehaltsplus von 11,6 Prozent hat sich aber nur parallel mit der Teuerung entwickelt, real ist ihr Einkommen gleich geblieben. Für das Steuersystem aber gilt Martha Mayer als zahlungskräftiger als noch 2016 und ihr durchschnittlicher Steuersatz ist höher. 2022 zahlt sie bereits 24 Prozent mehr Lohnsteuer als noch 2016 – obwohl sie nur um 11,6 Prozent mehr verdient. Hier wirkt die kalte Progression.
Ein Steuersystem „auf Rädern“ würde die kalte Progression abschaffen, laufend die Steuertarife, aber auch Frei- und Absetzbeträge an die Inflation an passen und verhindern, dass die Belastung des Faktors Arbeit steigt. Und dies mit erheblichen Folgen, für jeden Steuerzahler, aber auch für das Steuersystem insgesamt. Im angeführten Beispiel blieben Martha Mayer über den Zeitraum 2016–2022 mehr als 2.000 Euro mehr von ihrem Gehalt übrig.
Was für Martha Mayer eine Ersparnis im Umfang eines Urlaubs bringt, summiert sich gesamtwirtschaftlich schnell auf Milliardenbeträge. Wenn man analog zur Schweiz das Steuersystem „auf Räder“ stellen würde und die Steuerstufen mit der Inflation ansteigen würden, dann blieben den Steuerzahlern über den Zeitraum von 2016 bis 2022 Mehrbelastungen von rund 8,5 Milliarden Euro durch die schleichende Steuererhöhung erspart. Die Abschaffung der kalten Progression würde also zu einer nachhaltigen Entlastung des Faktors Arbeit beitragen und verhindern, dass sich die Steuerzahler ihre eigene Entlastung immer wieder vorfinanzieren. Wichtiger noch: Auch der Spielraum für eine politische Inszenierung von „großen Steuerreformen“ würde wegfallen. Wenn sich also eine Regierung künftig auf eine Steuerreform verständigen würde, müsste dies eine Strukturreform sein, weil die Mittel der kalten Progression nicht mehr verteilt werden könnten. Wer also wirklich den Steuer- und Abgabenkeil von Steuerzahlern wie Frau Mayer nachhaltig verkleinern möchte, muss auch die kalte Progression abschaffen.
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