Über Work-Life-Balance zu schwärmen, ist schick. Doch bringt der Teilzeitboom Wirtschaft und Sozialsystem an seine Grenzen. Die Politik sollte Freizeitwünsche nicht verhindern. Vollzeitarbeit muss sich aber lohnen.
In den Sozialmärkten herrscht deutlich mehr Betrieb als früher, und Vertreter von Hilfsorganisationen warnen vor einem schlimmen Herbst: Immer mehr Menschen seien angesichts der massiv gestiegenen Preise kaum noch in der Lage, ihre Grundbedürfnisse zu decken. Im reichen Österreich drohten viele Bürgerinnen und Bürger unverschuldet in die Armut abzurutschen.
Ohne Frage trifft die stärkste Inflationswelle seit 50 Jahren einen Teil der Bevölkerung besonders hart. Diesen Menschen muss rasch und unbürokratisch geholfen werden. Niemand soll vor der Wahl stehen, ob er sein knappes Budget für Lebensmittel oder für die Heizung ausgeben will. Dafür haben wir schließlich ein üppig dotiertes Sozialsystem, das auf einer simplen Idee basiert: Wer arbeiten und etwas leisten kann, hilft mit seinen Beiträgen jenen Mitbürgern, die in Not sind und sich nicht selber helfen können.
Allerdings zeigt die aktuelle Situation auch, dass dieses System an seine Grenzen stoßen wird. Es scheint nämlich langsam aus der Mode zu kommen, mehr zu leisten als unbedingt notwendig. Während die Regierung ein Hilfspaket nach dem anderen verabschiedet, um die Folgen der Teuerung zu mildern, steigt die Zahl der Österreicherinnen und Österreicher, die freiwillig auf Geld verzichten, indem sie ihre Arbeitszeit reduzieren. So verständlich und gut begründbar das im Einzelfall sein mag: Für den Sozialstaat ist es eine beunruhigende Entwicklung. Wer weniger arbeitet, trifft damit ja nicht nur die persönliche Entscheidung, mit weniger Geld auszukommen. Er leistet auch geringere Sozialabgaben und zahlt weniger Steuern.
Seit Monaten klagen Unternehmer über einen völlig leer gefegten Arbeitsmarkt. Zwar sind immer noch rund 300.000 Menschen arbeitslos gemeldet, doch es mangelt an Bewerberinnen und Bewerbern selbst für gut dotierte Jobs. Ein paar hunderttausend Stellen könnten sofort besetzt werden, wenn es Interessenten gäbe. Einige Expertinnen und Experten weisen an dieser Stelle gerne darauf hin, dass die Zahl der Menschen in Beschäftigung mittlerweile höher ist als vor der Coronakrise. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien also nicht plötzlich verschwunden, es würden wegen der Hochkonjunktur nur deutlich mehr gebraucht. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Deutlich gesunken ist seit der Pandemie nämlich die Zahl der pro Kopf geleisteten Arbeitsstunden. Das heißt: Immer weniger Menschen sind in Vollzeit tätig, immer mehr in Teilzeit. Der dadurch ausgelöste Personalmangel wirkt auf die Konjunktur wie ein Bremsmanöver. Unternehmen können Aufträge nicht annehmen, weil sie nicht genug Leute haben. In einigen Branchen – wie etwa der Gastronomie – sperren manche Betriebe erst gar nicht auf oder müssen ihre Öffnungszeiten reduzieren. Der Volkswirtschaft fehlen diese Einnahmen.
Es ist verlockend, über die neue Work-Life-Balance zu schwärmen. Und natürlich klingt es nach einem gesellschaftlichen Fortschritt, wenn Menschen ihre Hobbies pflegen, Paradeiser anbauen oder zu langen Urlauben aufbrechen können, anstatt 40 Stunden pro Woche einen mehr oder weniger interessanten Job zu erledigen. Doch wenn große Teile der Bevölkerung beschließen, sich – auf gut österreichisch – keinen Haxen mehr auszureißen, hat das eben auch eine Reihe negativer Konsequenzen, über die zu wenig gesprochen wird.
Die Folgen könnten eines Tages auch jene treffen, die sich jetzt noch über ihre langen Wochenenden freuen. Sollten sie ihren Job verlieren, wird die – logischerweise geringere – Arbeitslosenunterstützung zum angenehmen Lebensstil vielleicht nicht mehr reichen. Auch auf die Pensionshöhe wirken sich lange Teilzeitphasen äußerst nachteilig aus. Dass Frauen im Schnitt eine niedrigere Rente bekommen als Männer, liegt vor allem an der hohen Teilzeitquote.
Lebensmodelle ändern sich, das ist okay. Der Job gilt vielen Menschen heute eben nicht mehr als sinnstiftend. Sie verzichten gerne auf etwas Geld, wenn sie dafür mehr Freiheit genießen. Die Politik kann und soll gegen einen solchen Trend nichts ausrichten. Aber sie muss dafür sorgen, dass wirklich nur jene Bürgerinnen und Bürger in Teilzeit arbeiten, die das so und nicht anders wollen. Bessere Kinderbetreuungseinrichtungen etwa würden wohl viele Frauen motivieren, ihre Stundenzahl im Job zu erhöhen. Auch das Steuersystem sollte Anreize bieten, mehr zu arbeiten – und nicht umgekehrt, wie das derzeit vor allem bei mittleren Einkommen der Fall ist. Nicht zuletzt muss die Politik den Menschen auch klar kommunizieren, dass der Sozialstaat seine Grenzen hat: Für einen Teilzeitjob kann es später keine Höchstpension geben. Sonst kollabiert das System.
Mitunter lässt sich der Wunsch nach einem flexibleren Arbeitsleben vielleicht auch so realisieren, dass alle Beteiligten etwas davon haben. Eine gute Gelegenheit wird sich demnächst bieten, wenn die Herbstlohnrunden beginnen. Vielleicht finden Gewerkschaften und Arbeitgebervertreter gemeinsam eine Art „Money-Holiday-Balance“.
Gastkommentar von Hanno Lorenz für den “Standard” (27.08.2022).
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Gegründet um das Land in wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Belangen zu öffnen und neue Antworten auf die großen Herausforderungen zu liefern.
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