Neulich war ich wieder mal in meiner süddeutschen Heimatstadt. Zusammen mit einem Freund fuhr ich über eine der Rheinbrücken, ich kannte sie noch aus Jugendtagen. Damals führte eine Stadtautobahn über den Fluss. Nun war aus der Autobahn eine Mugelpiste geworden, die auch gut zu einem Safaripark in Simbabwe gepasst hätte. „Das ist schon seit einer Ewigkeit so“, sagte der Freund resigniert.
Wir in Deutschland leben von der Substanz. Unsere Unis werden peu à peu schlechter, unsere Infrastruktur bröselt, vor allem die Brücken, unsere Großbanken sind nur noch ein Witz, und um Handymasten zu errichten, brauchen wir Hilfe aus China. Einer der Bereiche, in denen wir zur Weltspitze gehören, ist allerdings die Bescheidenheit.
Die meisten Deutschen legen zum Beispiel keinen Wert auf ihren Titel oder tun zumindest so. Adlige führen das Wörtchen „von“ vielleicht noch auf der Visitenkarte, viele möchten aber auf keinen Fall als „von“ angeredet werden. Einen Dr. Müller in einer Mail als „Dr. Müller“ anzureden, gilt – außer in besonders traditionellen Milieus – als devot oder altfränkisch. Wer in Deutschland auf den „Doktor“ Wert legt, wird als eitler Pfau belächelt und steht im Verdacht, sich seinen Titel gekauft zu haben.
Als ich merkte, dass Österreicher sogar den „Magister“ vor ihren Namen setzen, war ich fassungslos. Ich habe den Magister, den gab es ja fast gratis. Wenn ich ihn verwenden würde, hielte man mich in Deutschland für narzisstisch gestört. Dass in Deutschland überhaupt noch Leute promovieren, hängt wohl damit zusammen, dass man wegen des Titels manchmal ein höheres Gehalt bekommt. Deshalb steht ein Promovierter immer im Verdacht, geldgierig zu sein. Ehrgeiz wird bei uns eher kritisch gesehen. Vielleicht können wir deshalb auch keine Handymasten bauen.
Inzwischen habe ich gelernt, dass in Österreich der Direktor eines Realgymnasiums korrekt mit „Herr Direktor Hofrat Dr. Müller“ angeschrieben wird. Angeblich gilt es als unhöflich, „Guten Morgen, Herr Hofrat Müller“ zu sagen statt „Guten Morgen, Herr Hofrat“ – ich kann das kaum glauben. Es gibt enigmatische Titel wie „Konsulent“ und sogar die „Bergrätin honoris causa“. Da denkt unsereins eher an ein Nagetier.
Bekanntlich mögen die meisten Deutschen die Österreicher und ihre Lebensart. Unter anderem beneiden wir euch darum, dass ihr euch Dinge traut, die wir uns verbieten. Hin und wieder unbescheiden zu sein, das hat was. Vor Jahren habe ich am Telefon mit einem Österreicher über eine Lesung verhandelt. Es ging ums Honorar. Ich nannte einen Betrag. Der österreichische Veranstalter schwieg kurz, dann sagte er: „Um Himmels willen. Sie verlangen zu wenig. Sie sind zu bescheiden.“
Das ist mir in all den Jahren in Deutschland nie passiert. Als ich später wieder mit dem gleichen Veranstalter zu tun hatte, ging ich mit meiner Forderung natürlich nach oben. Nun handelte er mich nach unten, ein gutes Zeichen.
Von Österreich lernen heißt siegen lernen.
Herzlich grüßt
Harald Martenstein
Harald Martenstein ist ein deutscher Star-Journalist. Er ist u.a. Redakteur des „Tagesspiegels“ und Kolumnist der „Zeit“. Von Jänner bis Dezember 2019 schreibt er für die Agenda Austria die monatliche Kolumne „Martensteins Österreich“.
Ein großer Teil der verbleibenden Lücke beim Gender Pay Gap ist historisch gewachsen und lässt sich durch Einkommensunterschiede zwischen den verschiedenen Branchen oder auch zwischen einzelnen Berufen erklären.
Der Staat fordert von den Bürgern höhere Steuern, um nur ja den eigenen Gürtel nicht enger schnallen zu müssen. Dabei hat der amtierende Finanzminister Alternativen aufgezeigt.
Obwohl die Pensionen den Staatshaushalt in den kommenden Jahren mit milliardenschweren Mehrkosten belasten, spielen sie bei den Regierungsverhandlungen keine nennenswerte Rolle. Schon jetzt ist der Zuschuss zu den Pensionen mit über 30 Milliarden Euro der größte Ausgabenposten des Staates, in den kommenden zehn Jahren kommen weitere fünf Millia
Es drängt sich der Verdacht auf, dass Europa nur mehr ein Statist auf der Weltbühne ist. Europa humpelt von einer Wirtschaftskrise zur nächsten. Die Wirtschaftslokomotive Deutschland ist im Rückwärtsgang unterwegs, in Frankreich klafft ein Milliarden-Loch im Budget und Österreich hat sich offensichtlich bei beiden angesteckt. Die Rezession zi
Eine Pleitewelle rollt über das Land, tausende Menschen verlieren vor Weihnachten ihre Jobs. Der Wirtschaftsstandort Österreich ist ein Sanierungsfall.
Während wir jedes Jahr Gedenk- und Aktionstage für beinahe jedes erdenkliche Thema feiern, kommt ein Tag nach dem Geschmack der Agenda Austria zu kurz: „Der Tag der leeren Staatskasse“. Dieser soll auf die prekäre Budgetlage Österreichs aufmerksam machen. Am 7. Dezember 2024 hat der Staat alle Einnahmen ausgegeben. Für die verbleibenden Ta
Gegründet um das Land in wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Belangen zu öffnen und neue Antworten auf die großen Herausforderungen zu liefern.
Lernen Sie uns kennenSie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Facebook. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenSie müssen den Inhalt von reCAPTCHA laden, um das Formular abzuschicken. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten mit Drittanbietern ausgetauscht werden.
Mehr InformationenSie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Instagram. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenSie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von X. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr Informationen