Die Regierung ist mit der Fusion der neun Gebietskrankenkassen nicht zu weit gegangen. Sondern nicht weit genug.
Streiten ist des Lebens Würze. So will es zumindest ein altes Sprichwort wissen, dem die obersten Repräsentanten der Sozialversicherungsträger offensichtlich eine ganze Menge abgewinnen können. Schließlich tobt seit Tagen in aller Öffentlichkeit eine erbitterte Auseinandersetzung darüber, wer denn nun für die drohenden Milliardenabgänge in der österreichischen Gesundheitskasse verantwortlich ist. Allein in den kommenden fünf Jahren werden 1,7 Milliarden Euro an Verlusten erwartet.
Zur Erinnerung: Die im Vorjahr abgewählte türkis-blaue Regierung ist zum Schluss gekommen, dass es nicht 21 Sozialversicherungsträger samt Verwaltungsapparaten braucht, um die Bevölkerung gegen Altersarmut und Arbeitslosigkeit abzusichern und im Falle von Krankheit und Unfällen bestmöglich zu versorgen. Für all das würden fünf Institutionen ausreichen: die Pensionsversicherungsanstalt, die Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen, jene der öffentlich Bediensteten, die allgemeine Unfallversicherung und die erwähnte Gesundheitskasse, die aus der Fusion der neun Gebietskrankenkassen entstanden ist.
Die damalige Regierung stellte damit einhergehende Einsparungen von einer Milliarde Euro in Aussicht, während Gewerkschafter und Arbeiterkämmerer die Fusionsbestrebungen von Beginn an mit aller Kraft bekämpften. Die roten Arbeitnehmervertreter sehen sich jetzt bestätigt, die anlaufenden Defizite seien Ergebnis der „schwarz-blauen Zerschlagung“, wie Ingrid Reischl vom ÖGB kritisiert. Peter Lehner vom ÖVP-Wirtschaftsbund wiederum macht die „rote Selbstverwaltung“ für die drohenden Verluste verantwortlich, womit er auf das dauerhaft defizitäre Wiener Gesundheitswesen anspielt.
Wer recht hat? Schwer zu sagen. Klar ist, dass die Fusion allein nicht für die Verluste verantwortlich sein kann. Sie ist erst seit wenigen Wochen in Kraft, die Anlaufkosten werden für die ersten zwei Jahre mit knapp 50 Millionen Euro beziffert. Wie daraus 1,7 Milliarden Euro Verlust werden sollen, ist schleierhaft. Und ja, das Wiener Gesundheitswesen ist schwer defizitär – aber das ist es seit vielen Jahren. Das war es also auch schon zu jenem Zeitpunkt, als Einsparungen in Höhe von einer Milliarde Euro versprochen wurden. Oder ist es am Ende so, dass das Defizit ohne Fusion noch um diese eine Milliarde Euro höher liegen würde?
Nichts Genaues weiß man nicht. Den Berechnungen fehlt es nämlich – wie könnte es anders sein – an Transparenz. Niemand kann sagen, wie die Defizitprognose zustande gekommen ist, welche Annahmen ihr zugrunde liegen. Das wäre aber gut zu wissen, denn Verluste zu prognostizieren hat bei den Krankenkassen Tradition. Allein in den vergangenen zehn Jahren wurden Abgänge von mehr als zwei Milliarden Euro prognostiziert, aber kein einziges Jahr schloss letztlich mit einem Minus ab. In Summe blieb ein Überschuss von 1,6 Milliarden Euro.
Unübersehbar ist, dass hier seit vielen Jahren ein parteipolitisch motivierter Richtungsstreit auf dem Rücken fassungsloser Beitragszahler ausgetragen wird. Wie lange müssen sich die Bürger dieses politische Hickhack auf ihre Kosten noch gefallen lassen? Frau Reischl und Herr Lehner sind ja nicht irgendwer. Sondern die obersten Vertreter der Sozialversicherungsträger, an deren Spitze sie sich halbjährlich abwechseln. Kraft ihrer Funktion verantworten sie knapp 64 Milliarden Euro, allein 19 Milliarden Euro im Gesundheitsbereich. Nun müssen die beiden nicht gemeinsam urlauben, aber es wäre womöglich nicht ganz falsch, wenn die beiden Funktionäre zumindest eine gemeinsame Vorstellung von der Führung des Dachverbands hätten und ihre Meinungsverschiedenheiten hinter verschlossenen Türen austrügen.
Das ist nicht der Fall, vielmehr scheint es sich hier um ein schwer zerrüttetes Verhältnis zu handeln, das eine professionelle Führung der Sozialversicherungsträger verunmöglicht. Womit eines immer klarer wird: Die frühere Regierung ist mit ihrer Kassenfusion nicht zu weit gegangen. Sondern nicht weit genug. Sie sollte diesem unwürdigen Treiben ein Ende setzen und die offensichtlich überforderten Sozialpartner von ihrer Verantwortung entbinden. Die Regierung könnte es den Dänen gleichtun und zumindest den Gesundheitsbereich vollständig aus dem Budget finanzieren, um im Gegenzug die volle Entscheidungsgewalt über die Ausgaben zu erlangen.
Wenn schon verstaatlichen, dann gleich richtig. Fehlende Transparenz und eine weit auseinanderliegende Verantwortung für die Einnahmen und die Ausgaben sind schließlich die zwei fundamentalen Gründe für explodierende Kosten im heimischen Staatswesen. Weshalb es in diesem Bereich nicht nur zu einer fortschreitenden Entmachtung der Sozialpartner, sondern auch der Länder kommen sollte.
Aber darüber auch nur laut nachzudenken, setzt hierzulande bereits enorme Widerstände frei. Die Regierung sollte diese Auseinandersetzung nicht scheuen, sondern zum Wohle der Versicherten aktiv suchen. Bekanntermaßen ist Streiten ja des Lebens Würze.
Kolumne von Franz Schellhorn im “profil” (23.02.2020)
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