Innenpolitik

Klimaschutz mit dem Richterhammer

Das Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs gegen die Schweiz war ein Paukenschlag. Doch was bedeutet es nun konkret? Welche Klimapolitik ist mit den Menschenrechten kompatibel? Oder ging es nur ums Prinzip?

Greenpeace hat es mal wieder geschafft. Mit einer Busladung Pensionistinnen, die die Schweiz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) medienwirksam zu einer entschlosseneren Klimapolitik verdonnert haben, ist der NGO ein atemberaubender PR-Aufschlag gelungen. Die Anwältin der Klägerinnen jubelte: “Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat damit festgestellt, dass Klimaschutz ein Menschenrecht ist.”

Das neue Menschenrecht manifestiert sich natürlich nicht durch einen neuen Artikel in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Das Wort “Klima” kommt darin weiterhin gar nicht vor. Doch der EGMR hat festgestellt, dass Menschen durch mangelnden Klimaschutz in ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt sein können. Auf die Seniorinnen treffe das zu, da sie unter Hitzewellen besonders litten. Auf diese Weise ist Klimaschutz ein Menschenrecht geworden.

Man könnte nun ein bisschen schmunzeln, dass ausgerechnet ältere Damen aus Mitteleuropa zu den größten Opfern des Klimawandels zählen und nicht etwa junge, bitterarme Menschen aus dem globalen Süden. Aber es ging hier mehr um eine juristische Formalität. Die Optik mag nun etwas schief sein, dass es am Ende Vertreterinnen einer der privilegiertesten Personengruppen der Menschheitsgeschichte waren, die ausgerechnet die Schweiz auf die Anklagebank schickten, wo pro Kopf so wenig CO2 ausgestoßen wird, wie kaum irgendwo sonst in Europa. Aber juristisch war eben nichts anderes zu haben.

Der Zertifikatehandel ist der klimapolitische Goldstandard.

Doch überlassen wir die rechtliche Aufarbeitung besser den Juristinnen und Juristen und fragen lieber, was das nun klimaökonomisch für die Schweiz bedeutet. Sollten wir darauf eine Antwort finden, gilt die für uns gleichermaßen. Zumindest klimapolitisch hat sich die Schweiz nämlich der EU weitgehend angeschlossen. Das eidgenössische CO2-Zertifikatehandelssystem ist an das europäische Emissions Trading System (ETS) gekoppelt. Auch Schweizer Unternehmen müssen Zertifikate kaufen, wenn sie eine Tonne CO2 ausstoßen wollen. Wenn es eine billigere Maßnahme gibt, um diese Tonne zu vermeiden, dann werden Unternehmen diese Maßnahme ergreifen. Das ETS gibt es in der EU schon seit 2005 und es funktioniert (inzwischen) prächtig. Um etwa ein Viertel sind die jährlichen Treibhausgasemissionen seither gesunken. Der Löwenanteil davon ist auf das ETS zurückzuführen.

Der Zertifikatehandel ist der klimapolitische Goldstandard. Darüber herrscht – und das will schon etwas heißen – unter Ökonominnen und Ökonomen weitgehend Konsens. Weltweit werden immer mehr solcher Systeme ausgerollt. Sogar in China. Leider bleiben die USA außen vor; ein bundesweiter Zertifikatehandel ist dort politisch aussichtslos. Man ist dort dazu verdammt, den zweitbesten Weg zu gehen: Statt klimaschädliches Verhalten zu bepreisen, überschüttet man Unternehmen mit Steuergeld. Kann auch funktionieren, ist aber viel, viel teurer.

Statt klimaschädliches Verhalten zu bepreisen, überschüttet man Unternehmen mit Steuergeld. Kann auch funktionieren, ist aber viel, viel teurer.

Doch leider hat auch das ETS ein paar Probleme: Erstens versteht es keiner. Viele vermuten dahinter immer noch windige Baumpflanzkampagnen im brasilianischen Regenwald. Das ist bedauerlich und könnte, zweitens, dazu führen, dass es politisch unter Druck kommt, sobald es anfängt, weh zu tun. Ab 2027 wird nämlich auch der Individualverkehr und der Haushaltssektor einem Zertifikatehandelssystem unterworfen. Es wäre gut, wenn die Menschen dann wüssten, warum die Beträge an der Zapfsäule und auf der Heizkostenabrechnung so hoch sind. Sonst laufen sie Gefahr, Parteien wie der FPÖ in die Falle zu gehen, die mit steigenden Energiepreisen natürlich prächtig umzugehen wissen. Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten in ganz Europa kokettieren gern mit einem Ausstieg aus dem ETS. Dass der nur mit einem EU-Austritt zu haben ist, wissen sie.

Drittens, und damit kommen wir zurück zum Urteil des EGMR: Die Einhaltung vorab festgelegter, jährlicher Emissionsziele lässt sich mit dem ETS nicht garantieren. Das ist kein Bug; es ist ein Feature. Das System soll eine gewisse Elastizität haben, damit in jeder konjunkturellen Lage genau dort die nächste Tonne CO2 eingespart wird, wo es am billigsten möglich ist. Eines ist aber sehr wohl garantiert: Dass am Ende die Null steht. Die Anzahl der Zertifikate ist fix. An alle, die im Namen des Klimaschutzes mehr Verbote fordern: Mehr Verbot geht nicht! Ab 2050 ist der Ausstoß von CO2 weitgehend illegal.

Doch der Pfad bis dorthin ist nicht genau politisch planbar. Nicht für die Schweiz und schon gar nicht für die EU. Was will also der EGMR? Die Antwort: Er will gar nichts. Er hat Recht gesprochen. Aber doch wäre die logische Folge für alle Länder, die sich demnächst solchen Klagen ausgesetzt sehen, den klimapolitischen Goldstandard aufzugeben und auf weitreichende Sofortmaßnahmen zu setzen, die teuer und von fragwürdigem Nutzen sind.

Ironischerweise wirken nun diejenigen Länder wie Oasen der Menschenrechte, die sich erst gar keine ambitionierten Zwischenziele gesteckt haben. War es das wert?

Gastkommentar von Jan Kluge und Carmen Treml in “Der Standard” (18.04.2024)

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