Innenpolitik

In Ostdeutschland gewinnt die Politik der Gefühle

Rechte und linke Ränder gestärkt, die Mitte geschwächt, Ost und West weiter voneinander entfernt als je zuvor, Vergangenheit und Wende scheinen kaum überwunden: Wohin steuert Deutschland nach der Bundestagswahl?

Der ungezügelte Volkswille hat sich wieder einmal Bahn gebrochen. Am Sonntag haben die Deutschen ihre politischen Ränder deutlich aufgerüstet. Auf der rechten Seite feixt die AfD – auf der anderen die SED-Nachfolgerin und gefühlte Siegerin der Herzen in den Hauptstadtstudios, die Linke. Fast hätte es sogar der populistische Selbstbausatz des BSW noch in den Bundestag geschafft. Weit sind die Volksversteherinnen und -versteher von ihrer Anmaßung, für die schweigende Mehrheit zu sprechen, gar nicht mehr entfernt.

Zumindest in manchen Landstrichen. Vor allem im Osten ist die flächendeckende Entfremdung mit Händen zu greifen. Rund 60 Prozent der ostdeutschen Wählerinnen und Wähler haben mit dem politischen System anscheinend abgeschlossen. CDU und SPD sind selbst dort, wo sie jahrzehntelang als politische Anker fungierten, oft kaum noch mehr als eine Randerscheinung. Die AfD erreicht in vielen Gemeinden die absolute Mehrheit. Linke und BSW kommen noch dazu.

Die Ostdeutschen sind nicht besorgt, enttäuscht, abgehängt oder wie man das eben in den letzten Jahren sonst noch verbrämt hatte. Sie gehen aktiv zur Wahl, weil sie den Laden brennen sehen wollen.

Überfremdung? Abgehängt?

Die rationalen Erklärungsversuche für die ostdeutsche Politikzentrifuge sind so bekannt wie unbefriedigend: Angst vor Überfremdung? Angst kann bekanntlich irrational sein, und bei kaum acht Prozent Ausländeranteil muss sie das wohl auch. Wirtschaftliches Abgehängtsein? Wer auf den seit der Wende oft schon zum zweiten Mal sanierten Autobahnen dahingleitet, sieht links und rechts durchaus die blühenden Landschaften, von denen Bundeskanzler Helmut Kohl damals gesprochen hatte und die man von den Rumpelpisten des Ruhrgebiets aus nicht erkennen kann. Das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in Sachsen war 2019 kaufkraftbereinigt erstmals höher als in Wien. Zur Jahrtausendwende hatte es noch um über ein Viertel darunter gelegen.

Und was soll eigentlich die Worthülse vom „fehlenden Respekt vor den Lebensleistungen der Ostdeutschen“? Das westdeutsche Rentensystem erkennt ihre Leistungen an, selbst jener, die nie einen Pfennig in das System eingezahlt haben. Selbst die Schergen des Ministeriums für Staatssicherheit bekommen ihre Dienstzeiten angerechnet.

Also nur ein Volk, dem der schnelle Wohlstand zu Kopf gestiegen ist? Das sich wie ein bockiges Kind weigert, seine Suppe zu löffeln? Da der Autor dieser Zeilen selbst Ostdeutscher ist, wäre er zu einem solch harschen Urteil durchaus befugt.

Doch so einfach ist es eben nicht. Wer nur die ökonomischen Kennzahlen studiert, vergisst, dass Politik auch Gefühl ist. Und natürlich wurden die Ostdeutschen nach allen Regeln der Kunst über den Tisch gezogen. Das volkseigene Vermögen? Verscherbelt an Glücksritter aus der BRD. Kaum eine Gemeinde im Osten, in der nicht bis heute Immobilien vor sich hin gammeln, weil sich die westdeutschen Käufer verhoben hatten und nicht mehr auffindbar sind. In ihrem Gefolge all die Himmelhunde, die kamen, um Marktwirtschaft zu predigen, die unter ihresgleichen aber nie offene Ohren für ihre Weisheiten gefunden hatten. Dazu die westdeutschen Gewerkschaften, die so taten, als läge ihnen der Osten am Herzen, die aber nichts mehr fürchteten als ein Billiglohnland direkt vor ihrer Haustür.

Die Währung eins zu eins anzupassen und die Löhne derart in die Höhe zu treiben, obwohl die Produktivität im Osten nur ein Drittel des Westens betrug, war entweder ein feindseliger Akt, oder man verstand doch nicht so viel von Marktwirtschaft, wie man vorgab. Die Folge war die zermürbende Arbeitslosigkeit und der Exodus der 1990er-Jahre. Die postsozialistische Tristesse in einem ostdeutschen Kindergarten klang ungefähr so: Na, hat dein Papa noch Arbeit? Nein. Und wo ist eigentlich Fräulein Meier? Auch schon in den Westen.

Doch auch diese Erklärung greift am Ende zu kurz. Es sind ja vor allem die Jungen, die die Ränder wählen. Selbst bundesweit stimmt über die Hälfte der unter 24-Jährigen für AfD, Linke oder BSW. Dabei kommt der einzige Veränderungsstress, den diese Generation kennt, von neuen Features bei Instagram und Tiktok. Die Hirnwäsche der Jungen in den Abgründen der sozialen Medien ist so total, dass sie sich bereitwillig unter die Stiefel der Russen legen würden. Derselben Russen, die bis weit in die 1950er-Jahre tausende Industriebetriebe in der DDR abmontierten. Die eilig alles in die Sowjetunion bugsierten, was nicht niet- und nagelfest war, und dabei eine industrielle Wüste hinterließen, in der bis heute nur dank der Milliarden aus dem Länderfinanzausgleich und aus Brüssel Leben möglich ist.

Jetzt erwarten Sie eine Conclusio? Hier ist sie: Laut einer Studie der Universität Leipzig haben zwei Drittel der Ostdeutschen Sehnsucht nach der DDR. Ihr Sehnen könnte erhört werden. Bis Wladimir Putin anfängt, in der Sächsischen Schweiz russische Pässe auszuteilen, könnte es nur noch eine Frage der Zeit sein.

Gastkommentar von Jan Kluge im „Standard“ (28.02.2025)

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