Es fehlt zwar an allen Ecken und Enden an Impfstoffen, aber nicht an unverzichtbaren Systemerhaltern.
In der früheren DDR gab es für die Bevölkerung nur einen Weg, die Staatsführung zu kritisieren, ohne dafür hinter den Toren eines sozialistischen Straflagers zu verschwinden: Die Kritik musste in Witzen erzählt werden. Einer ging so: In einer Konsumgenossenschaft steht eine Frau vor einer leeren Vitrine und fragt den Verkäufer: „Gibt es hier denn kein Brot?“ Dieser erwidert: „Nein, hier gibt es kein Fleisch. Kein Brot gibt es im ersten Stock!“ Heute fehlt es in den Gebieten der ehemaligen DDR nicht mehr an Fleisch und Brot, dafür an Impfstoffen. Aber nicht nur dort, sondern in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union. Obwohl das Gebiet der EU zu den reichsten Flecken der Erde zählt und mitten in der EU das erste hochwirksame Serum entwickelt wurde. Wie konnte es nur so weit kommen?
Begonnen hat alles damit, dass die Mitgliedsländer der EU beschlossen haben, den Impfstoff gemeinsam einzukaufen. Eigentlich eine blendende Idee, wäre sie nicht in bester DDR-Manier umgesetzt worden. Entscheidend war nämlich nicht die Frage, wie die Bevölkerung rasch durchgeimpft werden kann. Sondern, wie sicherzustellen ist, dass die Beschaffung „sozial gerecht“ erfolgen kann. Wie also zu verhindern ist, dass sich die Nationalstaaten einen Wettlauf um die Seren liefern und sich dabei preislich überbieten, worunter vor allem ärmere EU-Länder zu leiden gehabt hätten.
Zudem dürften die Pharmakonzerne keinesfalls an der Not der Menschen verdienen. Deshalb wurde so billig wie möglich bestellt und gerade genug, um die Impfpläne zu erfüllen. Das führte dazu, dass für den EU-Bedarf geringere Produktionskapazitäten bereitgestellt wurden und ein großer Teil des Impfstoffs an jene Länder ging, die früher bestellten und mehr bezahlten. Das Resultat ist eine Mangelwirtschaft der Sonderklasse, die dazu führt, dass weite Teile der Bevölkerung ungeschützt in die dritte Infektionswelle gehen. Wer billig kauft, kauft bekanntlich teuer.
Dabei wurden auch noch alle politischen Ziele verfehlt. Der Wettlauf um die Impfstoffe ist erst recht ausgebrochen, und von einer gerechten Verteilung kann keine Rede sein. Weder innerhalb der EU noch innerhalb der Nationalstaaten, wie nicht zuletzt das Beispiel Österreich zeigt. Wurden in Vorarlberg 41 Prozent der über 65-Jährigen zumindest einmal geimpft, waren es in Wien nur 22 Prozent. Dafür sind auffallend viele Jüngere bereits immunisiert. In Wien gingen zwei Drittel der Seren an die unter 65-Jährigen.
Die gute Erklärung für diese Schieflage: Ärzte, Pflegekräfte und Lehrer kamen vorzeitig dran. Die schlechte: Wie in jeder Mangelwirtschaft haben sich zahlreiche Schleichwege aufgetan, die von der Bevölkerung schonungslos genutzt wurden. Bürgermeister, die plötzlich bei der Impfung im Altersheim hinter der Ecke lauerten. Ehrenobmänner beim Roten Kreuz, Tierarzthelfer, Schlauchträger bei der Freiwilligen Feuerwehr, Uni-Lektoren im Distanzunterricht – es fehlt in Österreich zwar an allen Ecken und Enden an Impfstoffen, aber nicht an unverzichtbaren Systemerhaltern.
„Klar, der Staat kann das eben nicht!“, könnte man meinen. Das stimmt so aber nicht, weil es ja Staaten gibt, die gezeigt haben, wie es geht: Israel, die USA oder Großbritannien. Sie haben rechtzeitig Impfstoffe bestellt, gut dafür gezahlt, sich früh um Produktionskapazitäten und die Logistik gekümmert. Vielleicht sollten wir den nächsten Impfstoffkauf ja einem dieser drei Staaten überlassen. Diese erste Corona-Impfsaison könnte nämlich nicht die letzte gewesen sein.
Gastkommentar von Franz Schellhorn in der „Presse“ (26.03.2021)
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