Hat Israel gar den Mahatma Ghandi des Nahen Ostens getötet?
- 07.08.2024
- Lesezeit ca. 4 min
Der Coup des Mossad und die Wahlen in Venezuela zeigen, wie sich der Journalismus verändert: Gesinnung zählt mehr als nüchterne Berichterstattung.
Wer dieser Tage die Nachrichten aus dem Nahen Osten verfolgt hat, der weiß: Israel hat mit Ismail Haniyeh nicht etwa einen der übelsten Terroristen der Welt aus dem Verkehr gezogen, sondern einen wahren Friedensengel. Oder um es in den Worten des Israel-Korrespondenten der ARD, Christian Limpert, zu sagen: „Mit dem Tod Haniyehs als politischer Führer der Hamas sind Friedensbemühungen, Bemühungen um eine Waffenruhe im Gazastreifen und um einen Geiseldeal in unmittelbarer Zukunft sehr wahrscheinlich erfolglos“. Wie sehr dem „politischen Führer der Hamas“ der Frieden im Nahen Osten am Herzen lag, zeigte sich nicht zuletzt am 7. Oktober, als die Hamas-Schergen 1139 Menschen bestialisch abschlachteten.
Neben der ARD zeigten sich auch die BBC und die „Schweizerische Radio und Fernsehgesellschaft“ (SRG) über das Ablebens Haniyehs besorgt. Zumal dieser ja einer der Gemäßigteren in der Führungsriege der palästinensischen Terrororganisation, sorry, des „politischen Arms der Hamas“ gewesen sei. Das lässt sich vermutlich aus jener Video-Botschaft ableiten, in dem der „Pragmatiker“ Haniyeh (© BBC) nicht nur zur Auslöschung Israels aufgerufen hat, sondern auch an seine Landsleute appellierte, ihre Frauen und Kinder gezielt als Schutzschilde zu verwenden, um die islamische Revolution zum Endsieg zu führen. Das Kalkül: Je mehr palästinensische Zivilisten geopfert werden, desto stärker werde Israel international geächtet. Die Spindoktoren in Katar und Teheran haben ganze Arbeit geleistet.
Der „Standard“ konnte indessen in Erfahrung bringen, dass die Tötung Haniyehs nicht zufällig war. „Israel kalkulierte bei dem Attentat von Teheran Eskalation mit ein“, wie die Zeitung Mitte der Woche titele. Auch das Ö1-Morgenjournal zeigte sich ob der drohenden Eskalation besorgt. Die zentrale Botschaft wird den Lesern und Hörern zwischen den Zeilen mitgeliefert: Nicht das grauenhafte Morden vom 7. Oktober war die kalkulierte Eskalation in der Region. Auch nicht die tausenden iranischen Raketen, die seit Wochen von der Hisbollah aus dem Libanon auf Israel abgefeuert werden und zuletzt zwölf Fußball spielende Kinder auf den Golanhöhen töteten. Nein, die Ermordung eines der widerlichsten Drahtzieher der unzähligen Terrorschläge, mit dem die Hamas und die Hisbollah Israel überziehen, sei die wohl kalkulierte Eskalation.
Es fällt auf, dass sich insbesondere links der Mitte stehende Journalisten immer schwerer tun, die Dinge beim Namen zu nennen. Zum Glück ist das nicht immer so, in anderen Fällen fliegen die präzisen Attribute nur so durch die Gegend. So wissen wir, dass Benjamin Netanjahu ein ultrarechter Hardliner ist, der den Krieg nur deshalb eskaliert, um politisch seine eigene Haut zu retten. Jedem ist klar, dass es sich bei Javier Milei um einen anarcholibertären Neofaschisten handelt, der das von den Peronisten zur Hochblüte geführte Land mutwillig in den Abgrund stürzt. Georgia Meloni wiederum ist eine „schein-gemäßigte“ Postfaschistin, Donald Trump ein (rechts)radikaler Populist. Aber der Terrorist Ismail Haniyeh war ein gemäßigter Pragmatiker.
Schwer zu verdauen sind für die journalistische Linke nicht nur die Vorgänge im Nahen Osten, sondern auch im weit entfernten Westen, genauer gesagt in Venezuela. Mit Nicolás Maduro konnte sich nicht etwa ein sozialistischer Despot an der Macht halten, vielmehr wurde der „Amtsinhaber“ bestätigt. Während alle Welt davon ausgeht, dass er das nur mit einem üblen Wahlbetrug schaffte, war man sich in der Ö1-Sendereihe „Punkt eins“ am vergangenen Montag keineswegs sicher, ob das wirklich so war. Unklar sei auch, ob Venezuela tatsächlich eine Diktatur sei, schließlich wären ja auch andere Parteien zur Wahl zugelassen worden. Das aber auch nur, weil (wieder einmal) die (imperialistischen) Amerikaner ihre Finger im Spiel gehabt hätten.
Viele Venezolaner wären aber ohnehin nicht zur Wahl gegangen. Nicht etwa, weil sie um ihr Leben fürchteten, wenn sie gegen den autoritären Machtapparat stimmten. Sondern weil sie den „neoliberalen Kurs“ der Opposition nicht goutierten. Diese habe nämlich angekündigt, Verstaatlichungen wieder zurückzunehmen, wovon nur die organisierte Kriminalität und die frühere Oberschicht profitieren würden. Klar, da bleibt man schon lieber beim Regime eines der erdölreichsten Länder der Welt, in dem die Mittelschicht im Müll nach Essbarem sucht und 80 Prozent der Bevölkerung in bitterster Armut lebt. Da bleibt das Elend wenigstens verstaatlicht.
Kolumne von Franz Schellhorn in der “Presse” (03.08.2024)
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