Wirtschaft & Standort

Als ob wir noch eine Wahl hätten

Auf das neue EU-Parlament warten viele Aufgaben. Aber wenn es nicht gelingt, den Abstieg in die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit zu verhindern, ist keine davon erfüllbar.

Europa ist Geschichte. Die ökonomische Bedeutung des alten Kontinents schmilzt dahin; die EU bringt keine 15 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung mehr auf die Waage. Von der Demografie gar nicht erst zu reden. Im globalen Dorf sind die Europäer nur noch die paar übellaunigen Senioren, die den ganzen Tag Falschparker aufschreiben und zetern, dass früher alles besser war.

Die Musik spielt schon längst in Südostasien. Die Chinesen haben um sich herum die größte Freihandelszone der Welt aufgebaut. Dort entstehen gerade die neuen Leitmärkte. Wer früher irgendwo auf der Welt einen Fön produzieren wollte, musste das in erster Linie für die Bedürfnisse westlicher Konsumenten tun. Den Chinesen blieb gar nichts anderes übrig, als ihre Produkte entlang US-amerikanischer und europäischer Normen zu entwickeln. In Zukunft wird aber vor allem für den asiatischen Markt produziert. Die österreichischen Konsumenten werden froh sein müssen, wenn wenigstens die Gebrauchsanweisungen noch auf deutsch mitgeliefert werden.

Victor Gao, Sprachrohr der KP in Großbritannien, richtete jüngst einem Journalisten aus: „China ist ein Fakt. China ist ein Megatrend.“ Sich dagegen anstemmen? Unmöglich.

Umso wichtiger ist es, dass wir unseren Platz in der neuen Welt bald finden. Dazu gehört, dass wir Freihandel und Marktwirtschaft als Quellen unseres Wohlstands neu entdecken. Das gilt für die EU vor allem nach innen: Der Binnenmarkt wurde in den vergangenen Jahren geradezu demontiert. Deutsche und Franzosen verhöhnen die Beihilfenregeln, indem sie Chipfabriken mit milliardenschweren Subventionen ködern. Ausgerechnet die Franzosen, die die Defizitgrenze seit der Euroeinführung achtzehn Mal gerissen haben! Während man es mit den Regeln, die den Binnenmarkt schützen sollten, nicht mehr so genau nimmt, ist man beim Erfinden neuer Regeln umso kreativer: CSRD, CSDDD, EUDR. Die Welt lacht darüber.

Wer auch immer am 10. Juni im EU-Parlament aufwacht, muss dafür sorgen, dass es uns nicht wie Atlantis ergeht.

Und nach außen muss die EU wieder den Schulterschluss mit gleichgesinnten Partnern suchen. Was hätten wir für mächtige Handelsabkommen abschließen können, als noch Zeit dafür war! TTIP, CETA, EU-Mercosur, die Deals mit Indien oder Australien. Alles Länder, die – wie wir – ein vitales Interesse daran haben, nicht unter chinesischen Einfluss zu geraten. Aber was interessieren sich europäische Bauernverbände und Gewerkschaften für den Wohlstand künftiger Generationen, wenn es heute die Privilegien von ein paar Tausend Bauern zu verteidigen und die 32-Stundenwoche durchzusetzen gilt?

Auf lange Sicht muss es nicht schlimm sein, unterzugehen. Das Römische Reich ist untergegangen; trotzdem leben in Rom heute fast drei Millionen Menschen. Die Republik Venedig ist auch untergegangen; trotzdem kostet der Cappuccino am Markusplatz zwölf Euro. Doch wer auch immer am 10. Juni im EU-Parlament aufwacht, sollte wenigstens dafür sorgen, dass es uns nicht wie Atlantis ergeht.

Gastkommentar von Jan Kluge für die “Kurier” (05.06.2024). 

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