Wettbewerbsfähigkeit

Gegen bürokratischen Irrsinn helfen keine neuen Schulden

Mario Draghis Diagnose für den europäischen Patienten: zu viel Regulierung, zu wenig moderne Technologie. Seine Therapie würde das Leiden verschlimmern.

Müsste man den Zustand der europäischen Wirtschaft in einem Satz zusammenfassen, dann wäre es wohl dieser: Europa ist mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit geliefert. Zu wenige Investitionen in zukunftsträchtige Technologien und zu viel Bürokratie sorgen dafür, dass die EU wirtschaftlich immer weiter hinter den USA und China zurückfällt. Das behauptet nicht etwa die „Allianz für einen sofortigen Austritt aus der EU“, sondern der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi, der diese Woche seinen Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit Europas präsentiert hat. Jetzt trifft seine präzise Diagnose die Bürger der Union vermutlich nicht wie der sprichwörtliche Blitz aus dem heiteren Himmel, alle Statistiken zeichnen den wirtschaftlichen Abstieg Europas seit Jahren eindrucksvoll nach. Aber es tut gut zu hören, dass zumindest Mario Draghi das zentrale Problem Europas erkannt hat.

Zu wenige Investitionen in zukunftsträchtige Technologien und zu viel Bürokratie sorgen dafür, dass die EU wirtschaftlich immer weiter hinter den USA und China zurückfällt.

Noch erfreulicher ist, dass er nicht nur einen düsteren Befund auf den Tisch knallt, sondern auch eine Lösung mitliefert: Wir tun einfach das, was wir in kritischen Situationen immer tun – wir bewerfen das Problem mit Unmengen von Geld. Konkret müssten die EU-Staaten jährlich an die 800 Milliarden Euro zusätzlich in zukunftsträchtige Technologien, in neue Energiesysteme und in die Verteidigungsfähigkeit Europas stecken, um den Abstieg Europas in den Griff zu kriegen. Dabei schlägt Draghi auch eine „gewisse gemeinsame Finanzierung“ vor. Also Gemeinschaftsschulden, die von der EU auf Rechnung aller Mitgliedsländer aufgenommen werden, um dann in den Nationalstaaten investiert zu werden. Sie erinnern sich: Das ist jenes Instrument, das in der Pandemie „absolut einmalig“ zum Einsatz kommen sollte.

Fassen wir also kurz zusammen: Die europäische Wirtschaft wird von überzeugten Bürokratisierungsfreaks auf nationaler und supranationaler Ebene erfolgreich aus den Weltmärkten reguliert, um dann mit höheren Staatsausgaben auf Pump wieder auf Wachstumskurs gebracht zu werden. Nun will ich niemandem die Freude am „Draghi-Plan“ nehmen, aber durchschlagend überzeugend scheint mir dieser nicht zu sein. Das beginnt schon einmal damit, dass man eine in Grund und Boden regulierte Wirtschaft eben nicht mit schuldenfinanzierten Staatsausgaben flottkriegt. Sondern mit Regierungen und Kommissionsvertretern, die sich nicht länger von wettbewerbsfeindlichen Unternehmensverbänden und verträumten NGOs am Nasenring durch die Manege führen lassen, um eine absurde Regulierung nach der anderen auf den Weg zu schicken.

Denken wir nur an die Entwaldungsrichtlinie, die ab Jänner 2025 in Kraft tritt. Ab diesem Zeitpunkt müssen alle Holzverarbeiter lückenlos nachweisen, woher der von ihnen verarbeitete Rohstoff kommt. Der Beweis, dass der Baum nicht aus einem geschützten Wald kommt, ist der EU zu wenig. Das geht so weit, dass jeder Holzverarbeiter aus der EU die Herkunft der zu einer Tischplatte gepressten Sägespäne lückenlos dokumentieren muss. Dasselbe gilt für jeden Karton und jede Kaffeebohne, die grundsätzlich im Verdacht steht, auf einem zu Unrecht entwaldeten Boden gewachsen zu sein. Niemand weiß, wie das in der Praxis funktionieren soll, auch die EU-Kommission nicht.

Nein, Europa hat nicht wegen zu niedriger staatlicher Ausgabenprogramme den Anschluss verloren. Sondern wegen immer neuer Regulierungen, die im Wochentakt in den Unternehmen eintrudeln und die Lebensadern der Wirtschaft abschneiden.

Ein Fall für regulatorische Feinschmecker ist auch das Lieferkettengesetz, welches Unternehmen dazu verpflichtet, bis in den entlegensten Winkel der Welt die Einhaltung europäischer Sozial- und Umweltstandards sicherzustellen. Wie ein Produzent aus dem Innviertel garantieren soll, dass sein Zulieferer aus Sambia oder Myanmar nach europäischen Vorstellungen arbeitet, kann niemand schlüssig beantworten. Entweder lassen sich europäische Unternehmen von NGOs teure Unbedenklichkeitszertifikate ausstellen, auf deren Richtigkeit sie nicht vertrauen können, oder sie verabschieden sich gleich aus allen Schwellen- und Entwicklungsländern und überlassen das Feld jenen, die nicht lang nach Menschenrechten fragen.

Statt in Europa für Furore zu sorgen, suchen Innovatoren ihr Glück vermehrt in den USA, weil sie dort von Pensionsfonds mit Risikokapital überhäuft werden, während sie hier zu streng regulierten Banken pilgern müssen, um von selbigen zu erfahren, dass sie riskante Projekte nicht mehr finanzieren dürfen. Nein, Europa hat nicht wegen zu niedriger staatlicher Ausgabenprogramme den Anschluss verloren. Sondern wegen immer neuer Regulierungen, die im Wochentakt in den Unternehmen eintrudeln und die Lebensadern der Wirtschaft abschneiden. Dieses Problem löst man nicht mit Geld. Dieses Problem löst man mit einer radikalen Deregulierungsoffensive.

Kolumne von Franz Schellhorn in “Die Presse” (14.09.2024)

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