„America innovates, China replicates, Europe regulates“: Wir müssen uns von diesem Sprichwort verabschieden, wollen wir nicht unseren Wohlstand verspielen.
Der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union war zweifelsfrei einer der wenigen großen Glücksfälle in der jüngeren Geschichte dieser Republik. Für das kleine Österreich eröffnete sich mit einem Schlag ein riesiger Markt, der zollfrei mit heimischen Erzeugnissen beliefert werden konnte. Zudem brachten Liberalisierungen den Wettbewerb ins Land, der für frischen Wind und eine erhöhte Produktvielfalt bei gleichzeitig sinkenden Preisen sorgte. Kaum ein Staat hat wirtschaftlich so stark vom Beitritt zur EU profitiert wie Österreich. Und dennoch werden viele Menschen bei den Europawahlen am 9. Juni die Wahllokale mit einem flauen Gefühl heimsuchen. Weil sie sehen, dass sich die Welt in rasendem Tempo verändert und gleichzeitig spüren, dass das europäische Lebensmodell immer stärker unter Druck gerät.
So sieht sich Europa zwar noch immer als Zentrum allen wirtschaftlichen Lebens, übersieht aber, wie schnell seine Macht schwindet. Der Anteil der EU-Länder an der weltweiten Wirtschaftsleistung hat sich in den vergangenen 40 Jahren beinahe halbiert. Europa ist zwar noch immer der kaufkraftstärkste Absatzmarkt der Welt, die wirtschaftliche Musik spielt aber woanders, allen voran in Asien. Klar, Millionen von Menschen wünschen sich nichts sehnlicher als ein Leben in Europa. Nirgendwo auf dieser Welt wird mehr Geld für das Nichtstun bezahlt als hier. Wer in Europa aufgenommen wird, bestimmen nicht mehr die Bewohner der Mitgliedstaaten, sondern Schlepper und Glücksritter. Sie haben erkannt, dass Europa die Kontrolle über seine Außengrenzen verloren hat und seit zehn Jahren nach Lösungen sucht.
Auch wenn es in Europa fast niemand mehr zu glauben scheint: Wohlstand entsteht nicht durch das Verteilen von geliehenem Geld durch den Staat. Sondern durch Leistung, Innovationskraft und freien Handel. Konzepte, die blöderweise nirgendwo so unpopulär sind wie in Europa. So verhandelt die EU seit Jahrzehnten mit Ländern wie den USA und Australien über den Abschluss von Handelsabkommen. Vergeblich, denn europäische Bauern, Gewerkschaften und zahlreiche NGOs verhindern den Abbau von Zöllen. Wenn wir mit Ländern wie den USA und Australien keinen freien Handel betreiben wollen, mit wem denn dann? Mit Nordkorea?
Auch die Mercosur-Staaten (Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay) sind uns nicht sozial und grün genug. Seit 25 Jahren laufen die Gespräche, auch hier legen sich die üblichen Verdächtigen quer. Scheitern die Verhandlungen, wird nach Afrika auch Südamerika unter chinesischen Einfluss kommen, während Europa zusehends ins Abseits gedrängt wird. Dabei müssten selbst Greenpeace & Co. wissen, dass auch ein nicht ganz perfekter Deal mit Europa für den Amazonas noch immer besser wäre als ein Abkommen mit der Volksrepublik China.
Statt Kompromisse zu schließen, gefällt sich Europa aber in seiner Rolle als moralischer Hardliner. Die politischen Vertreter des alten Kontinents jetten gerne mit erhobenem Zeigefinger durch die Gegend, um der ganzen Welt zu erklären, wie sie zu leben und zu wirtschaften hat. Blöderweise kommt den Europäern schön langsam das Publikum abhanden. Die Menschen wollen keine Belehrungen, sie wollen jenen Wohlstand, den die Europäer für selbstverständlich halten. Auch wenn er es nicht ist, wie wir derzeit recht schmerzhaft feststellen müssen. Dasselbe gilt für das europäische Friedensprojekt. Wir verstehen uns zwar noch immer als Hort des Friedens, übersehen aber, dass wir uns längst im Krieg befinden. Ausländische Aggressoren schicken uns (noch) keine Panzer, dafür ihre Cyber-Armeen, die den alten Kontinent Schritt für Schritt destabilisieren. Deshalb wird auch kein Weg an einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik vorbeiführen. Schafft es Europa nicht, selbst für seine Unversehrtheit zu garantieren, werden es auch andere nicht tun. In dem Fall wäre alles andere nichts.
Wir Europäer müssen schleunigst erkennen, wie entscheidend es ist, eine Wirtschaftsmacht zu bleiben. Wer nicht die sozialen und ökologischen Standards anderer aufs Auge gedrückt bekommen will, braucht wirtschaftliche Power. Mehr Markt, weniger Marx, heißt deshalb die Devise. Mehr Freiheit, weniger Regulierung. All die zahllosen Richtlinien verschlingen die Unternehmen, ohne nennenswerte Vorteile für die Konsumenten oder die Beschäftigten der globalen Zulieferer zu bringen. Das Ziel muss eine mutige Europäische Union sein, die sich wieder traut, dem durchaus vorhandenen Innovationspotenzial freien Lauf zu lassen. Ein radikaler Kahlschlag in der Bürokratie, eine strategische Handelspolitik statt einer moralischen und ein gemeinsamer europäischer Kapitalmarkt, der das nötige Risikokapital liefert, wären schon ein ganz passabler Anfang. Für einen Aufbruch in eine optimistische Zukunft, in der ein freies Europa seinen sicheren Platz findet.
Kolumne von Franz Schellhorn für das “profil” (06.06.2024).
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