Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Es hat uns den Krieg zurück nach Europa gebracht. Und es hat uns gezeigt, dass die Regierungen nicht wissen, wie man die soziale Marktwirtschaft durch eine echte Krise steuern soll. Das Einzige, was wirklich einen Deckel braucht, ist 2022.
Ehrlichkeit ist eine Tugend, die man bei Politikern nicht so vorbehaltlos vermuten würde, wie sie letzte Woche beim deutschen Kanzler Olaf Scholz zutage trat: Man könne doch den ungeliebten EU-Gaspreisdeckel einfach so hoch ansetzen, dass man ihn nie zum Einsatz bringen muss. Ganz schön clever! Mit derselben Logik könnte die Wiener Verkehrspolizei ihre Alkomaten zu Silvester auf fünf Promille einstellen und sich eine ruhige Nacht machen.
Unfreiwillig und ironischerweise hat Olaf Scholz aber völlig recht: Der beste Preisdeckel für ein versorgungsrelevantes Gut wäre zwar gar keiner; auf einen guten zweiten Platz kommt aber schon die Preisobergrenze, die so hoch ist, dass sie nie schlagend wird. Erst weiter unten auf der Liste rangieren die niedrigen Preisdeckel, die den Flüssiggastankern kräftig in die Segel blasen und ihnen sichere Weiterfahrt nach Asien wünschen.
Seit Monaten reiben sich Energieexperten verwundert die Augen, wie sich die Politik in die obskure Idee hineingesteigert hat, man könne sich Preise einfach ausdenken, ohne dass das Konsequenzen hätte. Spanien hat schon früh in den Gaspreis eingegriffen und ist nun neben Portugal und Irland das einzige Land in der EU, das bis zum Herbst sogar mehr Gas verbraucht hat, als bis zum Herbst letzten Jahres. Auch Frankreich hat alle möglichen Preise fixiert und musste in der Folge den größten Stromversorger Europas (EDF) verstaatlichen. In ganz Südosteuropa haben sich die Regierungen auf die Spritpreise gesetzt und kämpfen seitdem mit Versorgungsproblemen. Die ungarische Regierung musste sich zuletzt sogar notgedrungen von der Maßnahme verabschieden.
Und nun will man sich gemeinsam den nächsten Deckel auf den Kopf setzen: Irgendwie ist man auf die Idee gekommen, am niederländischen Handelsplatz TTF würden falsche Gaspreise gemacht. In der Tat notierte LNG dort zuletzt etwas höher als am Weltmarkt. Das lag aber vor allem daran, dass die europäische Infrastruktur, die das Flüssiggas von den Schiffen in die Speicher pumpen sollte, heillos überlastet war. Also ist das Gas relativ günstig dorthin geflossen, wo es abgenommen werden konnte. Legt denn ein Bauer das letzte Dutzend Eier kostenlos für einen Kunden zurück, nur weil der gerade keinen Platz im Kühlschrank hat? Nein, er verkauft es lieber billiger an jemand anderen, der es sofort mitnehmen kann. Und dasselbe wird der Bauer tun, wenn der dreiste Eierkunde plötzlich nur noch einen Phantasiepreis zahlen will.
Mit dem zügigen Ausbau von europäischen LNG-Terminals in den letzten Monaten wird sich der TTF-Preis von ganz allein wieder dem Weltmarktpreis annähern. Diese Anstrengungen waren und sind allemal sinnvoller als der unsägliche „Marktkorrekturmechanismus“. Aber es wurden letzte Woche in Brüssel auch sinnvolle Dinge beschlossen: Es soll nun endlich den gemeinsamen Gaseinkauf geben, bei dem sich die europäischen Länder nicht länger gegenseitig überbieten, sondern ihre Marktmacht bündeln. Auch eine Beschleunigung der Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien wurde beschlossen.
Das macht Hoffnung auf ein besseres Jahr 2023. Vielleicht besinnen wir uns ja – wenn wir dieses Jahr die Deckel von den Sektflaschen nehmen – dass Börsen und LNG-Lieferanten nicht unsere Feinde sind, und machen uns endlich Gedanken darüber, wie der europäische Energiemarkt der Zukunft aussehen soll, statt ziellos darin herumzustochern.
Gastkommentar von Jan Kluge für “Die Presse” (26.12.2022).
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