Foto: © Stadt Wien / Ismail Gökmen PID
Wiens neuer Bürgermeister will keine Stadt der zwei Geschwindigkeiten. In diesem Fall sollte Michael Ludwig sein Haus besser nicht allzu oft verlassen. – Kommentar von Franz Schellhorn
Wer hierzulande außerhalb Wiens das Licht der Welt erblickt, lernt schon in sehr jungen Jahren, dass in der verschwenderischen Hauptstadt jenes Geld verbraten wird, das im arbeitsamen Westen des Landes erwirtschaftet wird. Eine Legende, die zu Österreich gehört wie der Wein zur Wachau. Wien zählt zu den Nettozahlern dieses Landes, das auch deshalb, weil Jahr für Jahr Tausende junge Menschen ihre Heimatdörfer verlassen, um sich in der ach so schrecklichen Bundeshauptstadt den Traum von einem besseren Leben zu erfüllen.
Ein Wechsel nach Wien ist kein wirklich schwerer Schicksalsschlag. Wien ist zwar teuer geworden, gehört aber zu den lebenswertesten Städten der Welt. Das ist natürlich auch ein Erfolg der Politik, insbesondere der SPÖ. Was nicht heißen soll, dass alles in bester Ordnung wäre. Das weiß auch der neue Wiener Bürgermeister Michael Ludwig, der kommenden Donnerstag die Amtsgeschäfte übernehmen wird. Anlässlich der Feiern zum 1. Mai meinte er am Rathausplatz: „Es darf in meinem Wien keine Stadt der zwei Geschwindigkeiten geben.“
In diesem Sinne wäre es wohl besser, wenn der neue Bürgermeister nicht allzu oft durch die Stadt spazierte. Denn dieses Wien der „zwei Geschwindigkeiten“ ist längst Realität. Mitten in der letzten Hochburg der österreichischen Sozialdemokratie hat sich nämlich so etwas wie eine Zweiklassengesellschaft herausgebildet. Hier die eine Gruppe, die von den Vorzügen der „lebenswertesten Stadt der Welt“ (laut Mercer-Studie) nur so schwärmen kann, und dort die andere, die auch deren Schattenseiten kennt.
Etwa junge Menschen, die sich zunehmend schwertun, adäquate Wohnungen zu bezahlbaren Preisen zu finden. Weil es in Wien einen Wohnungsmarkt der zwei Geschwindigkeiten gibt: die gut geschützten Mieter auf der einen Seite, die günstig im kommunalen Wohnbau oder zu Bagatellbeträgen in großzügigen Altbauten leben – und die „Neumieter“ auf der anderen Seite, die in einem sehr engen Marktsegment die steigenden Mieten mit voller Wucht zu spüren bekommen, weil die Nachfrage nach Wohnraum durch den Zuzug schneller steigt als das Angebot. Sechs von zehn Wiener Gemeindebürgern merken davon wenig bis nichts, sie leben in Gemeindebauten oder öffentlich geförderten Wohnungen.
Die Einkommensgrenzen, die den Bezug einer Gemeindewohnung rechtfertigen, sind übrigens so hoch, dass neun von zehn Wienern Anspruch darauf haben (45.510 Euro netto im Jahr für eine Person, 67.820 Euro netto Jahreseinkommen für zwei Personen). Wer nun meinen sollte, dass das nicht im Sinne des Erfinders sei, wird von Vertretern der Stadt gern auf die Vorteile der „sozialen Durchmischung“ verwiesen. Dagegen spricht ja auch nichts, aber vielleicht könnten die Gutverdiener unter den Bewohnern der Gemeindebauten ja auch marktübliche Mieten bezahlen. Mit den zusätzlichen Einnahmen wären neuer Wohnraum zu schaffen und die Wartezeiten für jene zu reduzieren, die auf günstige Wohnungen angewiesen sind.
Im Wien der zwei Geschwindigkeiten gibt es Gegenden, in denen gebürtige Wiener weitgehend unter sich bleiben. In denen die Einkommen der Bürger hoch und die Probleme des Alltags überschaubar sind. In denen sich die Frage nach der richtigen Schule nicht stellt, weil die öffentliche ums Eck eine gute Wahl ist. Und dann gibt es Gegenden, in denen die Einkommen niedrig und die Probleme der Bewohner bedrückend sind. Dort stellt sich zwar die Frage nach der richtigen Schule, aber die steht meistens in einem anderen Schulsprengel oder einem weit entfernten Bezirk.
Was wiederum dazu führt, dass die Einkommenskarrieren vieler Kinder in Wien zu Ende gehen, bevor sie begonnen haben. Einer der Gründe dafür sind fehlende Sprachkenntnisse. 51,2 Prozent aller Wiener Schüler haben eine andere Umgangssprache als Deutsch. Während der Anteil in Hietzing bei 28,3 Prozent liegt, sind es in Favoriten 69,4 Prozent. Das ist auch jener Bezirk, in dem die Arbeitslosigkeit am höchsten ist.
Wer gerade dabei ist, sein Kind in eine Schule einzuschreiben, wird die Flucht aus dem öffentlichen Schulsystem verstehen. Fast jeder fünfte Wiener Schüler besucht mittlerweile eine private Schule. Und wer in letzter Zeit einen Termin bei einem Kassenarzt vereinbaren wollte oder die Ambulanz in einem öffentlichen Spital aufsuchte, wird verstehen, warum eine wachsende Zahl von Menschen eine teure Zusatzversicherung abschließt. Viele können sich das allerdings nicht leisten.
Ungeachtet dessen hat sich in Wien in den vergangenen 20 bis 30 Jahren vieles gebessert. Die Stadt ist jünger und moderner geworden. In den weniger glamourösen Gegenden hat sich Wien aber anderen Metropolen angenähert. Mit all den damit verbundenen Problemen. Allerdings ist davon auszugehen, dass mit Michael Ludwig nun ein Bürgermeister das Rathaus führt, der offensichtliche Probleme adressiert, statt sie zu ignorieren. Weshalb auch in Zukunft Tausende junge Menschen ihre Heimatdörfer verlassen werden, um sich in Wien den Traum von einem besseren Leben zu erfüllen.
Kommentar von Franz Schellhorn im „profil“, 17.05.2018
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