Die auf dem EU-Gipfel beschlossenen Rettungspakete könnten ausgerechnet den erbittertsten EU-Gegnern jenen Sprengsatz liefern, auf den sie so lange gewartet haben.
Für die größten Anhänger der Europäischen Union waren die vergangenen Tage und Wochen zum Haareraufen. Da schmieden Deutschland und Frankreich einen 1800 Milliarden Euro schweren Hilfsfonds, um den besonders hart von Corona getroffenen EU-Staaten wieder auf die Beine zu helfen. Und eine Gruppe aus vier kleinen Mitgliedsländern weiß nichts Besseres, als diesen Akt der innereuropäischen Solidarität nach allen Regeln der Kunst zu sabotieren. Die Rede ist von Schweden, Dänemark, den Niederlanden und Österreich, die sich lange gegen den Rettungsplan zur Wehr setzten. Insbesondere gegen den Umbau der EU in eine Schuldenunion und das Verteilen von Geldgeschenken ohne Auflagen für deren Verwendung. Letzten Endes blieb ihr Widerstand erfolglos. Die vom niederländischen Premier Mark Rutte und vom österreichischen Kanzler Sebastian Kurz angeführte Gruppe der “Sparsamen Vier” erreichte zwar die eine oder andere kosmetische.
Der Widerstand der “Sparsamen Vier” war letzten Endes erfolglos.
Korrektur, konnte den großen Dammbruch aber nicht verhindern. Erstmals in der Geschichte wird die Europäische Union ein schuldenfinanziertes Konjunkturpaket auf den Weg schicken, um einzelnen Mitgliedsländern unter die Arme zu greifen. Und das, obwohl sich alle EU-Staaten problemlos selbst zu niedrigsten Zinsen verschulden könnten. Dieser Akt darf durchaus als historisch bezeichnet werden. Daran ändert auch der Hinweis nichts, dass es sich dabei um einen einmaligen Vorgang handle, weil ja eine dauerhafte Verschuldung mit den EU-Verträgen kollidiere. Nun einmal im Ernst: Glaubt wirklich jemand, dass diese Tür, die auf dem EU-Gipfel aufgestoßen wurde, jemals wieder zuzumachen ist? Eben. Auch in Zukunft werden wir uns immer wieder mit “außergewöhnlichen Situationen” konfrontiert sehen, die aus Sicht vieler Politiker und Ökonomen eine gemeinsame Verschuldung unumgänglich machen.
Wir haben also genau jene Schulden-Union bekommen, die noch vor wenigen Monaten von vielen EU-Staaten abgelehnt wurde, allen voran von Deutschland. In weiterer Folge wird die EU eigene Steuern einheben und sich zu jener zentralstaatlichen Fiskalunion entwickeln, die seit vielen Jahren gefordert wird. Das alles kann man ja auch wollen, ohne gleich jeden Einwand als “antieuropäisch” abzutun. Dass sich aber ausgerechnet jene Länder als unsolidarisch und antieuropäisch beschimpfen lassen müssen, die gegen die Kollektivierung von Staatsschulden auftreten, während jene als große Vorzeige-Europäer auftreten, die der gemeinschaftlichen Massenverschuldung Tür und Tor öffnen, ist zumindest diskussionswürdig. Zumal ja genau diese kollektive Verschuldung samt dauerhafter Umverteilung von Nord nach Süd jenen Sprengsatz liefern könnte, auf den die erbittertsten EU-Gegner so sehnsüchtig warten. Wenn nämlich am Ende eine Gemeinschaft steht, in der die einen immer nur zahlen und die anderen immer nur die Hand aufhalten, ohne Fortschritte zu erzielen, wird der Brexit kein singuläres Ereignis bleiben.
Die Bewohner von Ländern wie Schweden, Dänemark, den Niederlanden oder auch Deutschland werden sich früher oder später fragen, warum sie ihre Staatssysteme mit harten und unpopulären Reformen modernisiert haben, während andere Länder auf diesen mühseligen und politisch riskanten Weg verzichten und dafür auch noch von der Solidargemeinschaft belohnt werden. Sie werden sich fragen, warum sie als “Sparmeister”, “Zuchtmeister” und “Antieuropäer” beschimpft werden, wenn doch ihre verantwortungsvolle Haushaltspolitik eine europäische Solidarität überhaupt erst möglich machte.
Wenn die vergangenen Jahre eines gezeigt haben, dann das: Staaten, die in guten Jahren Überschüsse erwirtschaftet haben, um die Defizite der wirtschaftlich schlechteren Zeiten auszugleichen, stehen heute deutlich besser da als Volkswirtschaften, die sich in jeder konjunkturellen Lebenslage verschuldeten, um Reformen zu vermeiden. Nehmen wir nur Dänemark und Schweden. Beide Nicht-Euro-Staaten haben einen hohen Lebensstandard, ausfinanzierte Sozialstaaten bei einer Vor-Corona-Staatsverschuldung von weniger als 40 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Ähnliches trifft in abgeschwächter Form auf die Niederlande und Deutschland zu. All diese Länder können sich in schwierigen Situationen günstig verschulden, ohne auf die Hilfe anderer zu pochen. Und sie alle liefern die Basis für die hohe Kreditwürdigkeit der Europäischen Union.
Im Gegensatz dazu hat das drittgrößte Euroland, Italien, die Staatsschulden zwischen 2009 und 2019 von 115 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung auf 135 Prozent erhöht. Frankreich, das zweitgrößte Euroland, war schon vor Corona mit knapp 98 Prozent des BIP verschuldet. In beiden Ländern waren nicht Reformen die Lösung, sondern ständig steigende Staatsschulden, um das Nichtreformieren zu finanzieren. Diese Art der Politik wird nach dem Brüsseler Gipfel zur neuen Regel werden. Das mag vieles sein, nur eines ist es ganz sicher nicht: proeuropäisch. Es ist zum Haareraufen.
Kolumne von Franz Schellhorn im „Profil“ (26.07.2020)
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