Der 1. Mai steht ganz im Zeichen der 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Das wird vielen, aber nicht allen Arbeitnehmern in diesem Land gefallen.
Heutzutage wird am 1. Mai nicht mehr gegen die Ausbeutung einer entrechteten Arbeiterklasse gekämpft, sondern für die 32-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich. Viele Arbeitnehmer werden sich auch nicht mit Händen und Füßen gegen mehr Freizeit bei gleichem Lohn wehren. Völlig offen hingegen ist, was sich jene denken, die mit offenen Augen durch die Welt gehen und tagtäglich sehen, dass schon jetzt an allen Ecken und Enden die Arbeitskräfte fehlen. Jene, die länger bleiben, wenn es nötig ist, um bei vollen Auftragsbüchern die Arbeit ihrer Kollegen zu übernehmen, die längst auf ihren Mountainbikes sitzen, um ihre „Work-Life-Balance“ ins Gleichgewicht zu bringen.
Was wird in den Köpfen jener vorgehen, die sehen, wie hart in anderen Ländern für einen bescheidenen Wohlstand gearbeitet wird, während in Österreich bei stagnierendem Wachstum, galoppierenden Preisen, steigenden Budgetdefiziten und explodierenden Sozialausgaben zum chilligeren Arbeiten aufgerufen wird? Insbesondere an die Jüngeren wird mit dem Versprechen einer 32-Stunden-Woche eine unmissverständliche Botschaft gerichtet: Überarbeitet Euch nur ja nicht, strengt Euch nicht zu sehr an, entspannt Euch und startet gemächlich ins Berufsleben!
Was werden sich jene denken, die das Gefühl nicht ganz loswerden, dass seit einigen Jahren deutlich stärker in die Sozialsysteme zugewandert wird als in die Arbeitsmärkte? Oder jene, die in der Kantine mit den Kollegen aus der Lohnverrechnung ins Gespräch kommen und vorgerechnet bekommen, dass ihre Arbeitskosten allein mit dem Abgleich der Teuerung bis 2025 um 21 Prozent steigen werden. Würde nun auch noch die 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich eingeführt, verteuerte sich deren Arbeit im genannten Zeitraum um knapp 50 Prozent. Das wird nicht nur die Unternehmen unter enormen Druck setzen, die Umsätze kräftig zu erhöhen. Vielmehr müssten die Beschäftigten in 32 Stunden das erarbeiten, wofür sie vorher 40 Stunden in der Woche Zeit hatten. Wie das funktionieren soll? Man weiß es nicht.
Was sich die Mehrheit der Beschäftigten angesichts dieser Gemengelage denkt, werden wir nie erfahren. Es dürfte aber nicht ganz auszuschließen sein, dass sich die noch Vollzeit arbeitenden Beschäftigten wie die letzten Deppen vorkommen werden. Anstatt ihnen mehr Geld von ihrem hohen Arbeitseinsatz zu lassen, greift der Staat bei ihnen unbarmherzig zu. Sie tragen die vierthöchste Abgabenlast in ganz Europa, sie erwirtschaften jenes Geld, das wohlmeinende Politiker großzügig verteilen. Und sie dürfen dabei zusehen, wie der Staat ein Defizit nach dem anderen aufreißt. Der Bundeshaushalt war seit Gründung der Zweiten Republik 67-mal im Minus und ein einziges Mal im Plus. Ein Viertel des jährlichen Bundesbudgets ist allein dafür reserviert, das Finanzierungsloch im staatlichen Pensionssystem zu stopfen.
Wer von den volle Länge Steuern und Sozialversicherung zahlenden Beschäftigten einen Arzt braucht, sollte sich vorher zum Zen-Buddhisten ausbilden lassen. Das hilft, wenn ihnen Gesundheitsminister Johannes Rauch erklärt, dass „der Staat“ jetzt noch einmal richtig Geld in die Hand nehmen muss, um den nicht mehr zu übersehenden Niedergang des öffentlichen Gesundheitssystems zu verhindern. Das ist nicht ohne Ironie: In den vergangenen 20 Jahren sind die Gesundheitsausgaben von 16,6 auf 42 Milliarden Euro gestiegen, und damit fast dreimal so schnell wie die allgemeinen Preise. Um nicht Monate auf eine Untersuchung warten zu müssen, zahlen über drei Millionen Menschen zusätzlich zur Sozialversicherung noch extra für eine teure Krankenzusatzversicherung. Diese teure, aber funktionierende Versorgung mit Wahlärzten will der Gesundheitsminister nun aber einschränken – bis gar nichts mehr läuft.
Vielleicht wäre es ja an der Zeit, am 1. Mai nicht nur die roten Fähnchen zu schwingen. Sondern jenen unermüdlichen Mehrleistern zu danken und zu applaudieren, die den Wohlfahrtsstaat noch am Laufen halten. Und sich für deren steuerliche Entlastung einzusetzen, statt sie mit dem Versprechen einer 32-Stunden-Woche in eine Wohlstandsillusion zu locken. Dafür würde auch ich mir am Tag der Arbeit eine rote Nelke ins Knopfloch stecken.
Kolumne von Franz Schellhorn für die “Presse” (01.05.2023).
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Wir arbeiten zu wenig, besteuern Leistung zu stark, sonst kostet es Wettbewerb und Wohlstand.
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