Eineinhalb Jahre nach Ausbruch der Pandemie steht Österreich vor dem nächsten Lockdown. Und das hat sehr viel mit der politischen (Nicht)Führung zu tun.
In österreichischen Spitälern spielen sich Szenen ab, die vor kurzem niemand für möglich gehalten hätte. In Salzburg werden erste Triage-Teams gebildet, die im Notfall darüber entscheiden müssen, welche Patienten beatmet werden und welche nicht. Weil die Behandlung aller Patienten nach geltenden Standards nicht mehr möglich sei. In einem oberösterreichischen Krankenhaus gab es dem ORF zufolge von Sonntag auf Montag so viele Todesfälle, dass einige Leichen am Gang abgestellt werden mussten.
Während sich die ersten Spitäler auf Triagen vorbereiten, fragen sich viele Bürger, wie es so weit kommen konnte. Es ist der scheiternde Staat, der die Bewohner dieses Landes in diese verheerende Lage brachte. Bleiben wir bei den Spitälern: Auf den Intensivstationen liegen landesweit 486 Menschen – vierhundertsechsundachtzig. Das ist höchst bedauerlich, dürfte die Gesundheitsversorgung eines neun Millionen Einwohner zählenden Staates aber nicht an den Rand des Zusammenbruchs führen. Glücklicherweise ist weder ein benachbartes Atomkraftwerk in die Luft geflogen, noch ein Flugzeug in ein dicht besiedeltes Gebiet gestürzt. Wir kämpfen seit 20 Monaten gegen eine Pandemie, die nicht viele Überraschungen zu bieten hat. Und wir leben in einem Land, das sich rühmt, neben Kuba das beste Gesundheitssystem der Welt zu haben – noch dazu eines, das überdurchschnittlich viele Intensivbetten bereithält.
Wie sich nun herausstellt, sind diese Betten aber zu einem großen Teil nicht verfügbar. Warum? Weil es an Personal fehlt. Dieser Mangel dürfte in vielen Spitälern des Landes ähnlich verheerende Folgen haben wie das gefährliche Virus selbst. Wer Alarm schlagenden Intensivmedizinern genauer zuhört, weiß, dass es Spitäler gibt, in denen fast so viele Betten wegen fehlender Mitarbeiter gesperrt wie durch Corona-Patienten belegt sind. Wie das bundesweit aussieht, kann niemand sagen, weil es einmal mehr an Daten fehlt.
Wie aber ist es möglich, dass ein Staat, der die Milliarden geradezu rausbläst, es nicht schafft, eineinhalb Jahre nach Ausbruch der Pandemie genügend Pflegekräfte für die Intensivstationen anzuwerben? Zumal schon in der ersten Corona-Welle über enormen Personalmangel geklagt wurde. Nun ist es nicht einfach, diese dringend benötigten Fachkräfte aufzutreiben. Die Arbeit ist verdammt hart, die Gefahr auszubrennen enorm hoch. Aber es deshalb gar nicht erst zu versuchen? Wie wäre es damit, Pfleger gezielt im Ausland anzuwerben und alle Pflegewilligen mit einem Jahr Steuerfreiheit zu motivieren? Oder heimische Pflegekräfte zumindest für ein paar Stunden die Woche aus der Pension zurückzuholen?
Der für die Gesundheitsversorgung zuständige Staat hat sich damit begnügt, den Engpass zu moderieren. Statt ihn zu lösen. Dasselbe trifft auf die viel zu niedrige Impfquote zu. Statt im Sommer von Regierungsseite mit eindringlichen Kampagnen zu überzeugen, wird das unwillige Publikum der fehlenden Solidarität geziehen.
Die Sozialversicherungsträger schreiten indes zur Tat. Sie schreiben allen nicht geimpften Bürgern dieses Landes einen Brief. Das ist nett. Zumal dieser Brief auch einen Termin für eine Impfung enthalten soll. Die Sache wird aber dauern. Es fehlt nämlich die gesetzliche Grundlage dafür – die soll am 4. Dezember geschaffen werden. Im Sommer fehlte offenbar die Zeit dafür, diskutiert wird das Vorhaben seit dem Frühjahr. Womit die Briefe nicht vor Weihnachten bei den Bürgern eintreffen werden. Aber wer weiß, vielleicht hat man nur auf die hübschen Weihnachtssondermarken gewartet.
Derselbe Staat, der bereits Durchschnittsverdienern mehr als die Hälfte ihrer Einkommen abknöpft, erlässt eine 3G-Regel für den Arbeitsplatz, ohne davor die nötigen Testkapazitäten bereitzustellen. Das wiederum hat zur Folge, dass die Ergebnisse der erforderlichen PCR-Tests in einigen Bundesländern erst eintreffen, nachdem sie bereits abgelaufen sind. Chapeau, das muss man erst einmal hinkriegen. Die rühmliche Ausnahme ist das rote Wien, das dem ganzen Land seit Wochen zeigt, was politisches Leadership heißt: Entscheidungen zu treffen, die nicht Umfragen entspringen, sondern Notwendigkeiten.
Schuld an der Misere hat natürlich niemand. Weil hierzulande nie jemand verantwortlich ist. So wie auch nie jemand zuständig ist. Die Regierungsmitglieder spielen sich gegenseitig die Bälle zu und ersparen sich sogar die Mühe, eine gemeinsame Sprachregelung zu finden. Von einer gemeinsamen Linie nicht zu reden. Während Vertreter der Länder bei explodierenden Infektionszahlen nicht verlegen sind, die Richtigkeit ihres Weges zu preisen.
Bundespolitische Entscheidungsschwäche trifft auf landespolitischen Starrsinn, wie der Innenpolitik-Chef der Salzburger Nachrichten, Andreas Koller, punktgenau analysierte. Das Ergebnis dieses politischen Irrsinns ist, dass die Bürger dieses Landes vor dem nächsten Lockdown stehen. Mit verheerenden Folgen und Kosten. Und das nur, weil in den vergangenen Wochen und Monaten eine ganze Reihe von falschen Entscheidungen getroffen wurden.
Kolumne von Franz Schellhorn für “profil” (20.11.2021).
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