Wettbewerbsfähigkeit

Der kranke Mann Europas ist zurück

Namhafte Unternehmen verlassen Deutschland. Verlagert werden nicht etwa Stellen in der Fertigung, sondern in der Forschung. Höchste Zeit, den Kopf aus dem Sand zu ziehen.

Unseren deutschen Nachbarn kann man vieles nachsagen, aber ein auffallend starker Hang zur Zufriedenheit zählt eher nicht dazu. Umso erstaunlicher ist das Ergebnis einer aktuellen Umfrage des Allenbach-Instituts, das vergangenen Donnerstag in der FAZ veröffentlicht wurde. So liebt eine überwältigende Mehrheit der Befragten das Leben in Deutschland. Geschätzt werden der hohe Lebensstandard, das Qualitätsbewusstsein der Unternehmen und Konsumenten, der soziale Zusammenhalt, das kulturelle Angebot sowie die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Dennoch gehen nur 39 Prozent der Bürger davon aus, dass ihr Land in zehn bis 15 Jahren noch zu den führenden Wirtschaftsnationen zählen wird; vor fünf Jahren glaubten das noch 59 Prozent.

Die SPD gibt 25-Stunden-Woche als Ziel aus.

Die wachsende Zukunftsangst hat Gründe: Erst diese Woche kündigte Ford an, in Deutschland tausende Stellen zu streichen. Nicht etwa in der Produktion, sondern in der Entwicklung. So werden im Kölner Forschungszentrum 2500 der 3800 Stellen gestrichen, auch in Aachen stehen Stellenkürzung bevor. Ford will seine Fahrzeuge mit Elektroantrieb künftig nicht mehr in Deutschland entwickeln, sondern in den USA. Jetzt könnte man natürlich einwerfen, dass das für einen US-Konzern nicht ungewöhnlich ist. Energie ist in den USA spottbillig, zudem winkt die Biden-Administration mit milliardenschweren Förderungen. Alles, was nur irgendwie nach grüner Zukunft riecht, wird mit hohen Summen auf Rechnung der Steuerzahler subventioniert.

Gleichzeitig kündigte diese Woche aber auch Biontech an, Deutschland den Rücken zu kehren. Der Mainzer Biotechkonzern verlagert zwar nicht das ganze Unternehmen nach Großbritannien, aber dafür seine große Zukunftshoffnung: die Krebsforschung. „Jetzt gehen schon unsere Corona-Helden“ wie die „Bild“-Zeitung schreibt. Der Abzug sei eine schallende Ohrfeige für die deutsche Regierung. Biontech sieht das etwas gelassener, das Unternehmen setze eben auf die Vorteile der jeweiligen Standorte. Was freilich auf dasselbe hinausläuft, weil diese Vorteile eben nicht in Mainz, sondern in Cambridge zu finden sind.

Neben Biontech zieht es auch Bayer in die Ferne. Der Leverkusener Pharmakonzern erforscht neue Zell- und Gentherapien künftig in den USA. Europa sei einfach zu bürokratisch und zu innovationsfeindlich. Während diese Verlagerungen für Schlagzeilen sorgen, verlassen viele Mittelständler weitgehend geräuschlos das Land. Nicht von ungefähr: In allen Standortrankings rutscht der deutsche Wirtschaftsstandort ab, während Länder wie die USA, Kanada, die Schweiz, Singapur, Schweden und Dänemark von der Spitze lachen. Nur zwei der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt kommen noch aus Deutschland, die kleine Schweiz stellt drei. Das erinnert verdammt stark an die frühen 2000er-Jahre, als der britische „Economist“ Deutschland zum „kranken Mann Europas“ degradierte. Ein überreguliertes Land, das nur noch damit beschäftigt sei, den eigenen Niedergang zu verwalten.

Neben Biontech zieht es auch Bayer in die Ferne.

Damals wurde Österreich als das „bessere Deutschland“ gefeiert. Das stimmt zwar heute noch, allerdings sind beide Standorte von den Top-10 meilenweit entfernt. Die Ursachen sind nicht schwer zu finden. Beide Länder pflegen eine überdurchschnittlich stark ausgeprägte Technologie- und Unternehmerfeindlichkeit, Selbstständige zählen offenbar zu den größten Bedrohungen der Staatssicherheit, weshalb sie streng reguliert werden. Die Steuern sind hoch, dafür verlieren die staatlichen Dienstleistungen zusehends an Qualität. Und  Spitzenuniversitäten sucht man in beiden Ländern vergeblich. Obwohl es kein Geheimnis mehr ist, dass sie in der Standortwahl eine ganz entscheidende Rolle spielen. Google hat seine Europazentrale nicht der niedrigen Steuern wegen nach Zürich verlegt, sondern weil die nahegelegene Eidgenössische Technische Hochschule dem Technologiekonzern jene Absolventen liefert, die er braucht. Heute arbeiten über 5000 Menschen für Google in Zürich.

In Berlin und Wien scheint das niemanden wirklich zu kratzen. In den beiden Hauptstädten wird auch weniger über die Ansiedelung zukunftsträchtiger Tech-Konzerne diskutiert als über die Verteilung des großen Wohlstandskuchens. Ohne zu bemerken, dass dieser längst woanders gebacken wird. In Deutschland hat die Kanzlerpartei SPD die 25-Stunden-Woche zum Ziel erklärt, in Österreich wird täglich über das wachsende Freizeitbedürfnis einer von Arbeit geschundenen Bevölkerung diskutiert, die sich mit Anfang 60 in den Ruhestand begibt. Möglicherweise sind das nicht gerade die Punkte, die innovative Unternehmen scharenweise ins Land strömen lassen. Das alles ist nicht gottgegeben, die politische Führung hat es in der Hand, diesen Abwärtstrend zu stoppen. Höhere Ansprüche an die Universitäten, mehr Offenheit gegenüber neuen Technologien, gepaart mit einem hohen sozialen Zusammenhalt und einem wettbewerbsfähigen Angebot an staatlichen Dienstleistungen wären schon mal ein ziemlich guter Anfang.

Kolumne von Franz Schellhorn für den “profil” (28.01.2023).

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