Konjunktur & Wachstum

Der geprügelte Wohlstandsbringer

Ein liberaler Rettungsversuch für den Kapitalismus. Von Franz Schellhorn.

Hin und wieder ist die Sache erfrischend einfach. Wer sich fragen sollte, warum auf dieser Welt so vieles in die falsche Richtung läuft, muss nicht lange suchen: Der Kapitalismus ist schuld. An der Armut in der Dritten Welt, an der wachsenden Ungleichheit, am Terror, an der Zerstörung der Umwelt, am Burn-out, an der Magersucht, der Fettleibigkeit und neuerdings auch an der Vereinsamung der Menschen. Das ist kein Witz, sondern harte Realität – so jedenfalls wird das durchschnittlichen Medienkonsumenten präsentiert.

Diese Kritik ist nicht neu. Seit gut 200 Jahren wird behauptet, dass diese auf den totalen Individualismus abstellende Wirtschaftsordnung nur kurzfristig den Lebensstandard hebt, um dann von einer Krise in die nächste zu taumeln, wo sie dann vom Staat vor dem Untergang zu retten ist. Neu ist, dass die Ankläger nicht mehr nur von links außen kommen, sondern immer öfter aus dem Innersten des Systems. Seit Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise gehört es in elitären Zirkeln der Wirtschaft zum guten Ton, den Kapitalismus abzuurteilen. Klaus Schwab, Präsident des noblen Weltwirtschaftsforums in Davos, kam vor knapp fünf Jahren zum Schluss, dass er, der Kapitalismus, eben nicht mehr so recht in unsere Zeit passe. Der Managementberater und Wirtschaftsprofessor Fredmund Malik erklärte ihn gar für gescheitert. Wer hätte das nach dem kolossalen Zusammenbruch der kommunistischen Planwirtschaften je für möglich gehalten?

Welche Rolle die Politik bei der Entstehung der Finanzkrise spielte, scheint so wenig zu interessieren wie die Frage, ob es ihn denn überhaupt gibt, den verhassten Kapitalismus. Die Rede ist von einer Wirtschaftsordnung, in der die Produktionsmittel im Privatbesitz stehen, in der die unternehmerische Freiheit hoch und die Regulierungsdichte niedrig ist, Preise aus dem Abgleich zwischen Angebot und Nachfrage gebildet werden, Marktteilnehmer im Wettbewerb stehen, freier Handel betrieben wird, Vertragsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit herrscht und in der Unternehmer das Ziel verfolgen, die Erlöse möglichst über den Kosten zu halten. Letzteres läuft in der veröffentlichten Debatte übrigens unter dem Begriff “Profitgier”.

Regulierte Staatswirtschaft

Und wie sieht das nun in der Praxis aus? Werfen wir doch einen kurzen Blick auf Österreich. Sichtbar wird ein Land, in dem der Staat mit Ausgaben von über 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der größte Wirtschaftsfaktor ist. Ein Land, in dem die Bürger mehr als die Hälfte des Jahres für die diversen öffentlichen Hände arbeiten, in dem das Bildungssystem ebenso vom Staat betrieben wird wie das Gesundheits- und das Pensionssystem. In dem 98 Prozent der Löhne nicht am freien Markt gebildet, sondern von Gewerkschaften und Arbeitgebern in Kartellverhandlungen festgesetzt werden. Ein Land, das die Menschen zur Zwangsmitgliedschaft bei den Kammern nötigt, in dem der Zugang zum Unternehmertum strenger ist als in der Hochblüte der Zünfte und die Mieten streng reguliert sind. In dem die Energieversorgung ebenso verstaatlicht ist wie die Bahnen und in dem “freie” Bauern zu verstaatlichten Landschaftsgärtnern niedersubventioniert werden.

Das ist kein Kapitalismus, das ist eine regulierte Staatswirtschaft mit fallweise anzutreffenden marktwirtschaftlichen Aktivitätszentren. Und nicht viel anders sieht es in weiten Teilen Europas aus. Überhaupt gibt es weltweit kaum Wirtschaftsordnungen, die wirklich kapitalistisch zu nennen wären. Was es aber gibt, sind Volkswirtschaften, die besser funktionieren als andere. Hoher Massenwohlstand ist interessanterweise dort anzutreffen, wo es mehr Kapitalismus gibt, also in den sogenannten industrialisierten Ländern. Warum dann auch das staatswirtschaftliche Österreich zu den wohlhabendsten Ländern zählt? Weil das verteilte Geld entweder geliehen oder durch innovative, risikoaffine Individuen in den noch verbliebenen Nischen der Marktwirtschaft verdient wird.

Weniger Armut

Besonders auffallend ist, wie sehr sich weltweit die Lage der Ärmsten verbessert hat. Lebten Anfang der 1980er Jahre noch vier von zehn Menschen in bitterster Armut, ist es heute einer von zehn. Und das, obwohl die Bevölkerung seither von 4,5 auf 7 Milliarden gewachsen ist. Die gelungene Flucht aus der Armut sorgt innerhalb der ärmeren Länder für wachsende Ungleichheit – aber in dem Fall ist das eine erfreuliche Entwicklung. Wenn Kinder einer armen Bauernfamilie Jobs in einer für die Weltmärkte produzierenden Industrieregion finden und das X-fache ihrer armen Eltern verdienen, geht die Schere zwischen Arm und Reich unweigerlich auf. Die Eltern werden zwar nicht ärmer, sie haben so wenig wie bisher – aber die Kinder haben es zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht.

Ist das den Gewerkschaften zu verdanken? Den Kirchen? Oder gar umverteilenden Politikern? Für Nobelpreisträger Angus Deaton ist diese erfreuliche Entwicklung dem Kapitalismus zuzuschreiben, insbesondere der Globalisierung und der damit einhergehenden Ausbreitung der Märkte. Rocksänger und Entwicklungshelfer Bono erklärte 2013 verdutzten Studenten der Georgetown University, dass es mehr Kapitalismus brauche, um Menschen aus der Armut zu führen. Das alles ist kein Scheitern, sondern einer der größten Erfolge der Menschheitsgeschichte. Auch wenn es noch immer zu viel Armut auf dieser Welt gibt, lebten noch nie so viele Menschen auf einem so hohen Wohlstandsniveau wie heute. Auch dank der staatlichen Sozialsysteme, vor allem aber dank des Geldes, das auf wettbewerbsorientierten Märkten erwirtschaftet wird. Das ist empirisch belegt.

Elend in Nordkorea, Massenwohlstand im Süden

Geradezu unappetitlich wird die Kapitalismuskritik, wenn man sich die Situation jener Menschen vor Augen führt, die in Länder hineingeboren werden, in denen noch immer dem Traum von der totalen (Einkommens-)Gleichheit nachgejagt wird. Wie etwa in Nordkorea, dessen Bevölkerung in den 1950er Jahren noch auf demselben wirtschaftlichen Niveau lebte wie jene in Südkorea. Und heute? Armut und Elend im nördlichen Teil der Halbinsel, Massenwohlstand im südlichen Teil.

Geradezu verheerend sind die Zustände in Venezuela, das vor nicht allzu langer Zeit noch als die Alternative zum Kapitalismus gepriesen wurde: Industrien wurden “vergemeinschaftet”, ausländische Investoren aus dem Land gejagt, Preise für die Produkte des täglichen Bedarfs amtlich geregelt, die Einnahmen aus dem Ölverkauf an die Ärmsten umverteilt. Vor allem dafür hat Nobelpreisträger Joseph Stiglitz die venezolanische Führung im Jahr 2007 explizit gelobt. Es komme schließlich auf die breite Verteilung des Wachstums an, wie Stiglitz richtigerweise betonte.

Das scheinen die mehr oder weniger kapitalistischen Volkswirtschaften deutlich besser hinzukriegen. In Venezuela, dem Land mit den höchsten Ölreserven, herrscht heute Mangelwirtschaft und Elend. Während Hungernde zur Schlachtung von Tieren aus dem Zoo schreiten, gehen in den Krankenhäusern Kinder und Alte elendig zu Grunde, weil es keine Antibiotika mehr gibt. Die Produktion ist zum Erliegen gekommen, die Einfuhr aus dem Ausland wird von der sozialistischen Führung untersagt. Güter des täglichen Bedarfs sind nur noch auf den Schwarzmärkten erhältlich.

Kapitalismus am Pranger

Und was machen wir in unseren Wohlstandshochburgen? Wir stellen nicht den Sozialismus an den Pranger, sondern den Kapitalismus. Schmähen ihn und werfen mit verdorbenen Lebensmitteln aus unserer Überschussproduktion nach ihm. Warum? Weil wir Menschen nicht damit zurechtkommen, dass der Kapitalismus einige Wenige unfassbar reich machen kann. Das wird als ungerecht empfunden, obwohl Leute wie Bill Gates niemandem etwas stehlen und die breite Masse bei uns heute besser lebt als seinerzeit die Könige und Fürsten. Wir scheinen eben nur so lange mit unserem neuen VW Golf zufrieden zu sein, bis der Nachbar seinen neuen Mercedes in die Auffahrt stellt. Schade. Viele Menschen in den ärmsten Regionen würden gerne mit diesem “Problem” fertigwerden dürfen. Für sie ist der Kapitalismus nämlich der verlässlichste Fluchthelfer aus der Armut, den es derzeit gibt.

Hin und wieder sind die Dinge eben erfrischend einfach, auch wenn wir das in unseren Wohlstandshochburgen nicht sehen wollen.

Gastkommentar von Franz Schellhorn in der „Wiener Zeitung“, 24.12.2016

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