Der europäische Wirtschaftsmotor stottert
- 13.04.2023
- Lesezeit ca. 3 min
Wir müssen reden. Europa – Wiege der industriellen Revolution und des damit verbundenen Wirtschaftswachstums – hat ein Problem.
Ja, 3,3 Prozent Wachstum in der EU im Jahr 2022 nach 5,4 Prozent im Jahr 2021 hört sich zunächst einmal recht positiv an. Zwei so starke Jahre hintereinander hatte die EU seit ihrem Bestehen noch nie. Doch war da nicht etwas vor zwei Jahren? Richtig, im Zuge der Corona-Krise ist unsere Wirtschaftsleistung massiv gesunken. Trotz des guten Vorjahres betrug das Wachstum in der EU seit dem Jahr 2019 gerade einmal um 2,7 Prozent. Besonders schwach entwickelten sich die wirtschaftlichen Schwergewichte Frankreich, Italien und Deutschland. Das in der Inflationsbekämpfung fälschlicherweise idealisierte Spanien hat seit 2019 sogar eingebüßt. Andere Weltregionen entwickelten sich deutlich stärker. Die USA konnten gegenüber 2019 um stärker zulegen als die EU. Von den großen weltweiten Wachstumsregionen China und Indien ganz zu schweigen.
Der Krieg in der Ukraine war eine der Wachstumsbremsen, mit denen wir in Europa in den letzten Jahren konfrontiert wurden – von den grauenvollen humanitären Folgen des Kriegs einmal ganz abgesehen. Doch selbst ohne den Krieg wäre Europa vor große Herausforderungen gestellt. Wie soll es mit dem europäischen Industriestandort im Zuge der grünen Transformation weitergehen?
Man muss aber gar nicht erst so weit denken. Der Standort Europa steht heute schon vor veritablen Problemen. Stichwort Arbeitskräftemangel. Derzeit gibt jedes vierte Industrieunternehmen an, dass seine Produktion wegen Mangels an Arbeitskräften behindert ist. Harald Mahrer präsentierte vor wenigen Tagen eine Studie, der zufolge sich in Österreich bis 2040 eine Lücke von 363 000 Arbeitskräfte auftue. Die politische Diskussion scheint von diesem Problem völlig losgelöst zu sein. Beinahe wöchentlich liest man von neuen Vorschlägen, die Arbeitszeit in Österreich zu reduzieren. Das mag für einzelne Unternehmen attraktiv sein, um neue Angestellte zu finden. Doch den Branchen als Ganzes wird damit ein Bärendienst erwiesen. Wir müssten uns wieder Gedanken machen, wie in Österreich und dem Rest Europas mehr Arbeitsstunden geleistet werden könnten, statt weniger. In nur zwei anderen Ländern der EU muss ein Durchschnittsverdiener mehr von jedem erwirtschafteten Euro an den Fiskus abtreten.
Durch eine Abgabensenkung könnte Arbeiten in Österreich und dem Rest Europas wieder attraktiver gemacht werden. Doch auch darüber hinaus sollte es keine Denkverbote geben. Wie können wir arbeitswillige und arbeitsfähige Pensionisten die Möglichkeit geben, weiterhin am Wirtschaftsleben teilzunehmen, ohne dass sie über Gebühr besteuert werden. Nicht nur der Staat, sondern auch die Unternehmen müssen ihr Verhalten ändern. So sind Arbeitnehmer über 55 wertvolle Arbeitskräfte mit einem Schatz an Erfahrung, der genutzt werden sollte. So könnte ein Grundstein für das Wachstum der kommenden Jahrzehnte gelegt werden.
Gastkommentar von Marcell Göttert in der „Wiener Zeitung“ (13.04.2023).
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