Holzverarbeiter in der EU sollen nachweisen, wo die Bäume standen, deren Späne sie zu Tischplatten verarbeiten. Das ist nicht mehr Bürokratie, das ist Irrsinn. Geht das so weiter, bleibt von Europas Wirtschaft nicht viel übrig.
Der Befund von Mario Draghi war messerscharf: Die Staaten der Europäischen Union investieren viel zu wenig in zukunftsträchtige Technologien und viel zu viel in die Bürokratie. Weshalb Europa wirtschaftlich auch immer weiter hinter die USA und China zurückfalle. Das ist, grob zusammengefasst, die Kernaussage jenes rund 400 Seiten dicken Berichts, den der langjährige Zentralbanker und frühere italienische Ministerpräsident Anfang September vorgelegt hat, um der EU-Kommission ein akkurates Bild über die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu geben. Die glasklare Diagnose hat die Bürger der Union vermutlich nicht wie der sprichwörtliche Blitz aus dem heiteren Himmel getroffen – alle Statistiken dokumentieren den schleichenden wirtschaftlichen Abstieg Europas seit Jahren. Aber vielen wird es gutgetan haben, dass jemand wie Mario Draghi das Kernproblem der EU nicht nur erkennt, sondern auch benennt.
Das gilt vor allem für die vielen Unternehmen, die den bürokratischen Irrsinn tagtäglich abzuarbeiten haben. Wie die Österreichische Post AG: Der Staatsbetrieb hielt es für eine blendende Idee, Briefe und Pakete klimaschonender zuzustellen. Weshalb knapp 3000 Elektrofahrzeuge angeschafft wurden, die nur leider nicht EU-konform waren. Nicht die Autos waren das Problem, sondern die Reifen. Im Zuge der milderen Winter wurde nämlich ein Teil der neuen E-Flotte mit Ganzjahresreifen ausgerüstet, womit sich die Post einen zweiten Reifensatz samt Felgen ersparte. Ganz im Sinne der Umwelt, möchte man meinen. Die Taxonomieverordnung der EU sieht das anders: Der Abrieb der eingesetzten Reifen sei nicht so klimaeffizient wie jener von Sommer- und Winterreifen, womit die gesamte Flotte an Elektroautos als nicht nachhaltig eingestuft wurde.
Mit der Taxonomieverordnung legt die Europäische Union fest, welche wirtschaftlichen Handlungen als «nachhaltig» einzustufen sind und welche nicht. Die falschen Reifen aufzuziehen, hat schwerwiegende Folgen: Nicht nachhaltige Unternehmen werden nicht nur medial geächtet, sie tun sich auch deutlich schwerer, günstige Finanzierungen zu finden. Weil vor allem die Banken erpicht darauf sind, so viele taxonomiekonforme Unternehmen wie möglich in ihrem Kreditportfolio zu haben, um nicht selbst in den Verdacht zu geraten, an der Klimaapokalypse auch noch zu verdienen. Neben empfindlichen Geldstrafen droht Unternehmen in schweren Fällen der Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungen. Weshalb der Österreichischen Post nichts anderes übrigblieb, als noch einmal 1,5 Millionen Euro in die Hand zu nehmen, um sich Reifen mit dem passenden Gummiabrieb zu besorgen.
Nicht so günstig kommen jene Unternehmen davon, die gegen das Lieferkettengesetz der EU verstossen. Das Regelwerk verpflichtet grössere Unternehmen, die Einhaltung europäischer Umwelt- und Sozialstandards für alle Zulieferer bis in die entlegensten Winkel der Welt sicherzustellen. Dafür haften Unternehmen mit bis zu 5 Prozent ihres globalen Konzernumsatzes. Wie ein Produzent aus dem beschaulichen Innviertel oder dem weniger beschaulichen Ruhrpott garantieren soll, dass der zwölfte Zulieferer aus Myanmar nach europäischen Vorstellungen arbeitet, weiss niemand. Entweder lassen sich europäische Unternehmen von NGOs teure Unbedenklichkeitszertifikate ausstellen, auf deren Richtigkeit sie nicht vertrauen können. Oder sie verabschieden sich gleich präventiv aus allen Schwellen- und Entwicklungsländern, um das Feld jenen zu überlassen, die nicht lange nach Menschenrechten und Umweltstandards fragen.
Mit derartigen Argumenten läuft man Gefahr, als eiskalter Neokapitalist durchzugehen. Zumal das neue Regelwerk sicherstelle, dass Millionen von Kindern nicht mehr unter verheerenden Bedingungen in dreckigen Sweatshops schuften müssten, um eine reiche europäische Käuferschicht mit Billigstprodukten zu verwöhnen. Niemand könne wollen, dass der Kakao am Frühstückstisch von Kinderhänden gepflückt werde, heisst es aus Brüssel. Stimmt, das will niemand. Wir sollten es mit unserer Naivität aber auch nicht übertreiben. Die Vorstellung, dass Kinder in ärmeren Ländern nur deshalb nicht in die Schule gehen können, weil es kein Lieferkettengesetz der EU gibt, ist kindisch. Die Welt ist komplizierter: 1992 untersagten die USA die Einfuhr von Kleidung, die von Kinderhänden gefertigt wurde. In Bangladesch verloren daraufhin laut Unicef rund 50 000 Kinder ihre Arbeit. Sie drückten fortan aber nicht die Schulbank, sondern schufteten in Steinbrüchen oder wurden zu noch Schlimmerem gezwungen, um das Einkommen ihrer Familien zu sichern, wie ein NZZ-Bericht offenlegte. Kinderarbeit lässt sich nicht wegregulieren, sie ist nur mit steigendem Wohlstand und internationalem Handel aus der Welt zu schaffen.
Die EU-Kommission zeigt sich davon unberührt. Unternehmerische Freiheit war gestern, staatlich verordnete Umerziehung ist heute. Unter dem Titel «ESG» (Environment, Social and Governance) werden grosse Unternehmen als Hilfssheriffs zwangsverpflichtet. Sie sollen sich nicht nur um das Wohl ihrer Kunden kümmern, sondern um jenes der ganzen Welt. Unternehmen müssen in umfassenden Berichten dokumentieren, wie gut sie sich gegenüber der Umwelt und benachteiligten Gruppen der Gesellschaft verhalten haben. Wie beherzt sie in Windparks investieren und wie konsequent sie abscheuliche CO2-Schleudern einmotten. Banken werden angehalten, nur noch nachhaltige Investitionen zu finanzieren. Aber was genau ist damit gemeint? Sind Kredite an Atomstromproduzenten jetzt «haram» oder aufgrund der Energiekrise wieder «grün»? Ist die vor kurzem noch verpönte Waffenindustrie angesichts des Angriffs Russlands auf die Ukraine jetzt wieder okay, weil freiheitssichernd? Und ist es wirklich ein zivilisatorischer Fortschritt, wenn Unternehmen dicke Berichte über das Geschlechterverhältnis bei ihren Weiterbildungsprogrammen abliefern müssen?
Ein wichtiger Beitrag zur Rettung der Welt ist neben «ESG» die Entwaldungsverordnung der EU. Jede Kaffee- und jede Kakaobohne steht im Verdacht, auf einem zu Unrecht entwaldeten Boden gewachsen zu sein. Alle Importeure müssen lückenlos dokumentieren, woher der von ihnen verarbeitete Rohstoff kommt. Der Nachweis, dass ein verwerteter Baum aus einem ungeschützten Wald kommt, genügt der EU nicht. Ein Hersteller von Pellets, der nur das Holz aus dem eigenen Forst verwendet, muss mit Tausenden Satellitenbildern beweisen, dass er keine geschützten Wälder abholzt. Dasselbe gilt für jeden Kartonproduzenten. Aber es wird noch besser: Jeder Holzverarbeiter muss die Herkunft aller zu einer Tischplatte gepressten Sägespäne lückenlos nachweisen können. Die Späne kommen von verschiedenen Sägewerken, der Verarbeiter muss dennoch dokumentieren, wo der Baum für den jeweiligen Span gestanden ist. Niemand weiss, wie das funktionieren soll. Um das herauszufinden, soll die Verordnung nicht kommendes, sondern erst übernächstes Jahr in Kraft treten.
Die Überregulierung der europäischen Wirtschaft rettet nicht die Welt, sondern schadet bloss Europa. Sie befeuert zwar das Geschäft grosser Beratungsunternehmen, beschleunigt aber die Deindustrialisierung des Kontinents und verschärft damit den wirtschaftlichen Abstieg. Aber wie kommen wir aus der Misere wieder heraus? Das führt uns zurück zu Mario Draghi. Er knallte der EU-Kommission nicht nur einen unerfreulichen Bericht auf den Tisch, er lieferte auch eine Lösung: Höhere Staatsausgaben, finanziert durch Gemeinschaftsschulden, sollen die Volkswirtschaften des alten Kontinents wieder auf Vordermann bringen. Das ist ein vergleichsweiser origineller Ansatz: Zuerst wird die europäische Wirtschaft auf nationaler und supranationaler Ebene erfolgreich aus den Weltmärkten reguliert, um dann mit höheren Staatsausgaben auf Pump wieder auf Wachstumskurs gebracht zu werden.
Gegen bürokratischen Irrsinn helfen keine neuen Schulden, dagegen hilft nur eine entschlossene Deregulierung der europäischen Wirtschaft. Das beginnt damit, dass sich Kommissionsvertreter und nationale Regierungen nicht mehr von wettbewerbsfeindlichen Unternehmensverbänden und verträumten NGOs am Nasenring durch die Manege führen lassen, um eine absurde Regulierung nach der anderen auf den Weg zu schicken. Und es endet damit, dass die EU-Kommission geschlossen nach Buenos Aires reist, um sich vom argentinischen Präsidenten Javier Milei aus nächster Nähe vorführen zu lassen, wie sich der staatlich gehegte Bürokratiedschungel wieder lichten lässt: indem die Kettensäge angeworfen wird. Wenn die Europäische Union ihren wirtschaftlichen Abstieg stoppen will, wird sie um das eine oder andere «Afuera!» nicht umhinkommen. Sie wird sinnlose Regularien, die ausser Bürokratie nichts bringen, ersatzlos streichen müssen. Taxonomieverordnung? «Afuera!» Lieferkettengesetz und Entwaldungsverordnung? «Afuera!» Die Welt wäre danach keine schlechtere. Sie wäre eine bessere. Europas breiter Massenwohlstand gründet schliesslich nicht auf Bürokratie und Regulierung. Sondern auf einem freien Unternehmertum und einem freien Handel.
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